12 Lehren vom Jakobsweg

Zurück vom portugiesischen Jakobsweg frage ich mich: Was habe ich in den 12 Tagen des Pilgerns von Porto nach Santiago de Compostela gelernt?

Meine zwölf wichtigsten Lehren vom Jakobsweg:

Inhalte

1. Ich bin nicht „zu spät“. Ich teile mir meine Kräfte nur anders ein.

Ich bin startklar. Rucksack geschultert. Wanderstiefel fest verschnürt.

Motiviert und auch etwas nervös, was mich auf meiner Reise durch Portugal und Spanien erwarten wird, begebe ich mich zum Startpunkt meiner Pilgerreise – der Kathedrale von Porto. Gegenüber ihrem prächtigen Eingangsportal befindet sich der Meilenstein, der den Beginn des Jakobswegs von hier an markiert. Unter dem gelben Muschelsymbol auf blauem Grund steht die Zahl 248 – die Anzahl der Kilometer, die mich von dem Wallfahrtsort Santiago de Compostela trennen.

Feierlich gestimmt bitte ich eine Touristin in der Nähe, ein Foto von mir zu machen. Ich reiche ihr mein Handy und sie knippst los. Ich verrate ihr, was sie sich wahrscheinlich schon denkt: Dass ich gleich den Jakobsweg beginnen werde. Wird sie mir als Erste den Pilgergruß „Buen Camino“, einen guten Weg, wünschen?

Ihre Antwort lautet anders als erwartet: „Oh, you are late!“ Ruft sie mit Blick auf ihre Uhr. „Du bist zu spät!“ Es ist etwa 10:30 Uhr.

Den Rest des Tages denke ich über diesen Satz nach. Hat sie recht und ich hätte schon früher loslaufen sollen? Bekomme ich heute Abend überhaupt noch einen Platz in einer Unterkunft? Und warum habe ich auch andernorts häufig das Gefühl, „zu spät dran“ zu sein?

Tatsächlich habe ich davon gelesen, dass viele Pilger schon recht früh am Morgen aufbrechen, um vor der Mittagshitze am Tagesziel anzukommen. Doch das Wetter ist heute recht kühl, in den frühen Morgenstunden hat es noch geregnet.

Wer früh startet, hat während der Hochsaison natürlich auch die besten Chancen auf einen Platz in einer Pilgerunterkunft. Doch jetzt, Mitte Mai, sind noch nicht so viele Pilger unterwegs. Die Zahl der freien Betten dürfte nicht knapp werden. Also warum die Eile?

Während ich noch meinen Laufrhythmus suche, sammle ich immer mehr Argumente gegen das morgendlichen Statement: Ich hatte in Ruhe gefrühstückt und Kraft für die erste Etappe getankt. Ich laufe in normaler Geschwindigkeit, bleibe oft stehen, um auf der Karte nach dem Weg zu schauen oder Fotos zu machen. Immer wenn meine Beine müde werden oder ich Durst bekomme, lege ich eine Pause ein und genieße dabei die Aussicht auf den Ozean. Bei einem höheren Tempo hätte ich dazu gar keine Zeit!

Am Ende des ersten Tages mag ich eine der letzten sein, die die Unterkunft erreicht. Doch es sind noch genug Schlafplätze frei. Und ich habe das Gefühl, dass ich heute Morgen genau zum richtigen Zeitpunkt gestartet bin.

2. Obwohl alle dasselbe Ziel haben, geht jeder seinen eigenen Weg.

Ganz bewusst hatte ich mich dafür entschieden, den Jakobsweg alleine zu gehen. Ich glaube, jeder soll in seinem eigenen Tempo starten. Die Begegnung mit anderen Pilgern, die denselben Rhythmus haben, kommt dann schon von selbst.

Gerade an den ersten Tagen habe ich das Bedürfnis alleine zu gehen. Ich mache einen weiten Bogen um die anderen Pilger oder tue so, als würde ich ihr Deutsch nicht verstehen. Dafür nutze ich die Zeit, um mich und die anderen Pilger zu beobachten.

Was mir auffällt: Trotz unseres gemeinsamen Ziels geht jeder Pilger seinen eigenen Weg. Wir starten von verschiedenen Orten, wählen unterschiedliche Herbergen, gehen (wenn auch minimal) andere Routen, nehmen (gewollt oder ungewollt) Umwege in Kauf, machen längere oder kürzere Pausen.

Jeder trägt seinen Rucksack alleine – sowohl den einen als auch den anderen.

Dass wir alle in dieselbe Richtung laufen ist es, was uns – so unterschiedlich wir auch sein mögen – gleichwohl verbindet. Niemand ist allein. Selbst dann, wenn er oder sie alleine läuft.

3. Egal welche Sprache die anderen Pilger sprechen – mit dem Herzen verstehe ich sie.

Auf dem Jakobsweg hört man die unterschiedlichsten Sprachen: Spanisch, Englisch, Französisch, Portugiesisch, Polnisch und (öfter als mir manchmal lieb war) Deutsch. Trotz dieser sprachlichen Vielfalt ist es im Grunde ganz einfach sich zu verständigen.

Beim Kennenlernen geht es sowieso meistens um dieselben Fragen: Wie heißt Du? Wo bist Du gestartet? Wohin gehst Du heute? So einfach kann eine Unterhaltung mit Fremden sein. Dazu braucht man keine großen Fremdsprachenkenntnisse.

Zwischendurch ist mir teilweise gar nicht mehr aufgefallen, in welchen Sprachen die Menschen miteinander sprechen – denn irgendwie habe ich sie immer verstanden. Natürlich nicht jedes Detail und jede Nuance. Aber durch aufmerksames Beobachten und Nachfragen wurde immer klar, worum es ging. Gesichtsausdruck und Gesten sprechen sowieso eine viel deutlichere Sprache als Worte.

Ein älterer Pilger, der schon viele, viele Jakobswege gegangen ist, sprach sogar davon, dass Europa durch die Pilgerschaften im Laufe der Jahrhunderte zusammengewachsen sei. Vielleicht sollten Friedensverhandlungen auch einmal im Gehen geführt werden?

4. Meine Mitpilger sind wie das Salz in der Suppe.

Am dritten Tag meiner Pilgerreise schließe ich mich einer Zweierkombo aus der Schweiz an. Die Jungs versprühen richtig gute Laune und ich habe Lust auf ein wenig Gesellschaft. Allerdings legen sie auch ein rasantes Tempo vor und ich muss mich anstrengen mit ihnen mitzuhalten. Dafür habe ich an ihrere Seite nach nur zwei Stunden schon mehr als die Hälfte meiner Tagesetappe zurückgelegt. Und so viel wie lange nicht mehr gelacht und gescherzt. Erschöpft lege ich anschließend eine außergewöhnlich lange Mittagspause ein, während die beiden Schweizer fröhlich weiterziehen.

Tags darauf nehme ich das Angebot in meiner Unterkunft für ein gemeinsames Abendessen wahr. Eine Portugiesin kocht Hähnchen für uns Pilger und lässt uns dann mit mehreren Flaschen Hauswein alleine. Es wird ein langer Abend mit herzlichen Menschen.

Alle haben das Bedürfnis sich auszutauschen. Anekdoten vom aktuellen oder einem früheren Camino werden erzählt, persönliche Beweggründe kommen an die Oberfläche und es wird sogar gesungen. Zum ersten Mal auf dem Jakobsweg habe ich das Gefühl, das dies viel mehr wird als eine gewöhnliche Reise.

Was ich noch nicht weiß: Einige aus der Runde werden mich bis zum Ende des Weges begleiten.

5. Es gibt Dinge, die kann man nicht erklären.

Das „einfache“ Leben auf dem Camino – Aufstehen, Laufen, Essen, Schlafen – schafft Raum für Gespräche über tiefgründigere Themen. Zwischen Weinfeldern und Olivenbäumen oder bei ein paar Tapas nach einem langen Marsch lässt es sich wunderbar über die Dinge sprechen, die sonst oft unausgesprochen bleiben.

Warum bin ich unzufrieden? Warum ist gerade mir so etwas Schreckliches passiert? Bin ich noch auf dem richtigen Weg? Wie soll es weitergehen? An was glaube ich eigentlich?

All die Fragen, die die Pilger mit sich tragen, lassen sich auf dem Jakobsweg zwar nicht abschließend beantworten. Doch mir erscheint es so, als würde der Weg die Menschen für mögliche Antworten öffnen.

Manche Dinge lassen sich mit Worten nicht beschreiben, die muss man fühlen. Manche Erfahrungen muss man selbst machen, um sie zu verstehen. Und manche Dinge lassen sich niemals erklären, die muss man glauben.

6. „Je schwerer der Rucksack, desto größer die Angst.“

Heute beschäftigt mich ein Satz, der am Tag zuvor gefallen ist, weiter: „Je schwerer der Rucksack, desto größer die Angst“, hat eine Pilgerfreundin während des Abendessens gesagt. Ich denke, das ist ein Pilgersatz für die Ewigkeit.

Mein eigener Rucksack ist zwar relativ leicht. Doch bei vielen Mitpilgern kann ich gut beobachten, wie sie sich das Laufen wortwörtlich schwer machen. Wer zu viel Gepäck mit sich rumschleppt, bekommt früher oder später die Quittung in Form von körperlichen Beschwerden.

Auf dem Jakobsweg lernen deshalb viele Pilger schnell, wie gut es tut, sich von überflüssigem Ballast zu befreien. Ein Pilgerfreund erzählt mir begeistert davon, dass er sich unterwegs schon von der Hälfte seiner Sachen getrennt hat. Ich glaube, am Ende des Weges werden wir alle ein kleines bisschen minimalistischer sein.

7. Es gibt nicht das eine Kleid, das jedem passt.

Irgendwann treffe ich unterwegs Franzi. Sie versucht im selben Café wie ich bei zwei völlig überforderten Spaniern einen Kaffee zu bestellen.

Mit Franzi verstehe ich mich auf Anhieb prächtig und wir entdecken schnell viele Gemeinsamkeiten. Franzi kommt auch aus Bayern und ist genauso alt wie ich. Doch vor allem unsere Einstellung zum Leben ist erstaunlich ähnlich: Wir beide fragen uns, inwieweit wir die Erwartungen, die auf uns liegen, erfüllen wollen, sind hin- und hergerissen zwischen Anpassungswillen und Abenteuerlust. Was uns beide eint: Die Erkenntnis, dass wir nicht hineinpassen, in ein Schema, das so viele Entscheidungen schon vorwegnimmt.

Es ist wie in einem Modegeschäft, folgern wir: Das Kleid von der Stange mag vielen Frauen passen und einigen auch gut stehen. Doch für manche braucht es ein bisschen Maßarbeit.

8. Mit Freunden an Deiner Seite ist alles leichter zu tragen.

Wer lange läuft, bekommt es irgendwann unweigerlich mit Problemen zu tun: schmerzende Füße und Blasen sind da nur das kleinste Übel.

Manche wälzen auf dem Weg heimische Probleme und machen sich Sorgen um ihre Zukunft. Einige verarbeiten einen schweren Schicksalsschlag oder nehmen sich die Zeit, sich von einem verstorbenen Angehörigen zu verabschieden.

Doch egal, wie schlecht es Dir gehen mag, unterwegs gibt eine große Stütze: Deine Pilgerfreunde. Tatsächlich spreche ich bereits nach einer kurzen Zeit des gemeinsamen Gehens ganz selbstverständlich von meinem „Pilgerfreund“ Peter oder meiner Pilgerfreundin Pia. Mit ihnen geht sich jeder Weg leichter, jede Last ist leichter zu tragen.

Die Freunde an Deiner Seite verstehen es auch, wenn Du Dich einmal nicht mit ihnen unterhalten möchtest. Sie teilen mit Dir ihr Picknick. Lassen Dich ungefragt wissen, wo noch ein Platz in einer Herberge frei ist. Sie warten auf Dich in der nächsten Bar. Oder schenken Dir „nur“ ein Blasenpflaster.

9. Auch wer langsam geht, kommt ans Ziel.

Die große Blase an der Ferse, die ich mir ungefähr zur Halbzeit erlaufen habe, macht mir zu schaffen. Einen Tag muss ich komplett aussetzen und ich fahre die Etappe mit dem Zug. Tags darauf wird es zwar besser, doch ich kann noch nicht richtig auftreten, geschweige denn mit dem Tempo meiner Mitpilger mithalten.

Ganz langsam gehe ich an diesem Tag voran. Jeder einzelne Schritt ist mühsam, aber wichtig, denke ich, und bringt mich meinem Ziel ein Stückchen näher.

Wer gezwungen ist, sein Tempo zu drosseln, hat dafür Zeit für andere Dinge: Ich beginne, den Weg an sich mehr zu genießen, die Natur zu bewundern, den Duft der Bäume einzuatmen, die kleinen Dinge am Wegesrand wahrzunehmen. Und nicht mehr ständig auf der Karte zu prüfen, wie weit es noch ist. Ans Ziel komme ich zwar spät, aber noch früh genug.

10. Früher oder später wird genau das Richtige Deinen Weg kreuzen.

Es ist komisch und wahrscheinlich schwer nachzuvollziehen für alle, die es (noch) nicht selbst erlebt haben, doch: Irgendwann erkennt man, dass der Jakobsweg eine erstaunliche Anzahl positiver Zufälle mit sich bringt.

Egal, was Du brauchst, was Du Dir wünscht, welches Problem Du hast – auf dem Weg findet sich garantiert eine Lösung. Der Weg führt am Ende alles zusammen, wie es Pilgerfreundin Sabine so treffend formuliert. Du musst nur etwas Geduld aufbringen (und ein bisschen mithelfen):

  • nach einer langen Durststrecke erscheint das idyllische Café, in dem Du Dich in Ruhe wieder stärken kannst
  • als Du Dich gerade verirrst, kommt jemand, der Dich wieder auf den richtigen Weg lenkt
  • Jemand gibt Dir unerwartet ein guten Tipp für die Abendgestaltung
  • ein Pilger spricht einen Satz aus, der Dich zum Nachdenken bringt
  • Du triffst genau die Menschen, die zu Dir passen

Ganz ehrlich: Das alles tritt ab einem bestimmten Zeitpunkt mit solcher Regelmäßigkeit ein, dass ich am Ende schon aufhöre mich über diese „Zufälle“ zu wundern. Alles wird gut, denn Du bist auf dem Camino!

11. Je näher man dem Ziel kommt, desto kürzer erscheint der Weg.

Was eine der größten Lehren vom Jakobsweg sei, fragen mich meine beiden Mitpilger Dagi und Nick an unserem letzten gemeinsamen Abend in Santiago. Wir stehen in einer beliebten Bar und trinken Hierbas, einen spanischen Kräuterlikör. Ich blicke kurz ins Glas, lächle und antworte auf die Frage, die ich mir auch schon gestellt hatte:

Ich glaube, der Weg ist wie das Leben, nur in konzentrierter Form. Am Anfang scheint er unglaublich lang und man denkt, man hätte dafür ewig Zeit. Zwischendurch zweifelt man dann, ob man überhaupt alles schafft, was man sich vorgenommen hat. Und rückblickend erscheint der Weg unglaublich kurz. Man ist einerseits traurig, dass er vorbei ist, andererseits auch glücklich, dass man ihn gegangen ist.

12. Du kannst weiter gehen als Du denkst.

Ist es viel, 250 Kilometer zu Fuß zu gehen? Vor einiger Zeit hätte ich wahrscheinlich noch Ja gesagt. Noch nie im Leben bin ich so weit gelaufen.
Nachdem ich den portugiesischen Jakobsweg gegangen bin, würde ich sagen, dass es gar nicht so weit ist. Wenn Du Dir die Strecke gut einteilst, jeden Tag ein kleines Stück gehst, genügend Pausen einlegst und auf Deinen Körper achtest, ist die Strecke leicht machbar. So wie gute Gewohnheiten Dich weit bringen können.

Der Weg erscheint mir aber nicht nur kürzer, je weiter ich ihn gehe. Auch ein anderes Gefühl wächst mit jedem gelaufenen Kilometer: Ich will gar nicht ankommen. Denn einerseits möchte ich meinen Pilgerfreunden nicht Adieu sagen. Und andererseits kann ich mir nicht vorstellen, wie es sein wird, nicht mehr weiterzugehen.

Als ich dann endlich ans Ziel komme und die reich geschmückte Kathedrale vor mir steht, will ich es auch nicht wahrhaben. Das soll es schon gewesen sein? Der Weg hat doch gerade erst angefangen, oder?

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Rebecca Keller
(Weitere Gedanke zum Jakobsweg und zum Thema Minimalismus findest du auf Rebeccas Blog frei-mutig.de)

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