Ich möchte auf diesem Weg meine Geschichte mit euch teilen.
Der Jakobsweg ist einer der ältesten Pilgerwege in Europa. Von überall auf der Welt pilgern Menschen aus religiösen, spirituellen oder sportiven Gründen nach Santiago de Compostela zum Grab des Apostels Jakob. Auch ich mache mich zwischen März und Mai 2014 aus spirituellen Gründen auf den Weg von Saint Jean Pied de Port nach Santiago, Finisterre und Muxia.
Eine Reise, bei der man bewusst auf Luxus verzichtet und sein Hab und Gut immer mit sich herumträgt.
Eine Reise, bei der man jeden Tag in einem anderen Bett schläft und auf die Herzlichkeit und Menschlichkeit anderer angewiesen ist.
Eine Reise, bei der man lernt, sich selbst und anderen zu vertrauen.
Ich möchte dich auf meinen Weg mitnehmen.
Da mein Tagebuch doch relativ lang ist, habe ich es in die drei typischen Jakobsweg Abschnitte aufgeteilt: Das erste Drittel des Weges ist für den Körper, das zweite Drittel für den Kopf und das letzte Drittel ist für die Seele. Die Drittel sind nicht gleich aufgeteilt, weil sie bei jedem Menschen unterschiedlich lang dauern, aber diese drei Phasen durchläuft JEDER.
Das Drittel für den Körper war für mich das Härteste, aber das Wichtigste. Denn hier leert man seinen Geist ohne es zu wissen. Es bereitet den Körper und die Seele für einen Neustart vor. Man könnte auch sagen, in dieser Phase wird mit Körper und Geist ein Reset durchgeführt.
Inhalte
Teil 1: Der Kopf
Irun – 24.03.2014
Flug mit Vueling Airlines… Hübsche spanische Stewardessen. Spanisch hört sich toll an… Nur viel zu schnell. Wann holen die Spanier Luft beim Reden? Der Flughafen in San Sebastian ist so putzig. Wir landen auf einer kleinen Landebahn und am Ende der Bahn drehen wir mitten auf dieser um und Rollen wie beim Valet Parking direkt vor das Terminal. Leute kleben mit ihren Gesichtern an den Scheiben und warten auf ihre Liebsten. Auf mich wartet niemand. Ich stürze mich in ein Abenteuer, bei dem ich ganz allein starte. Mulmig ist mir dabei schon. Ganz allein, als junge Frau in einem Land, das man gar nicht so gut kennt. 800 km zu Fuß auf dem Camino Frances durch ganz Spanien. Eine Pilgerreise. Ich kann kein Spanisch und hoffe mit meinem guten Englisch durchzukommen. Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht? Ich bin ja nicht mal religiös. Gestartet hat dieser abstruse Plan mit dem Wunsch nach dem Ingenieur Studium einfach allem zu entkommen. Einen Break machen und runter kommen. Urlaub? Vielleicht.
Kurz zu mir, so wie ich mich zu Beginn der Reise beschreibe: Ich bin ein deutsches, junges Mädchen, 24 Jahre alt. Ich habe Maschinenbau studiert und mit einem Master abgeschlossen. Da die Situation am Arbeitsmarkt im Moment etwas komplizierter ist, möchte ich zum Abschalten einfach längere Zeit weg. Ich habe einen Freund, Markus, der mit 41 Jahren deutlich älter ist als ich. Er ist geschieden und hat einen 9-jährigen Sohn. Wir sind seit einem knappen Jahr zusammen und es läuft prima. Irgendwie hat er viele Gedanken und Dinge in mir losgetreten, die mich in dem Glauben lassen, dass eine Pilgerreise in genau diesem Moment genau das Richtige für mich ist. Aber dazu im Laufe der Reise mehr. Ich bin während der Hinreise einfach nur nervös, wie so oft in meinem Leben. Komme ich gut an? Habe ich irgendwelche Probleme von A nach B zu kommen? Ist das Zimmer im Hotel auch wirklich reserviert? Geplant sind nur der Hinflug nach San Sebastian, das Hotel in Irun in der ersten Nacht und der Rückflug von Santiago am 01.05.2014. Mehr habe ich nicht geplant, was für mich schon mal eine außerordentliche Leistung ist, denn ich plane sonst immer alles. Typisch deutsch eben.
Mein Rucksack kommt in San Sebastian mit leichten Beschädigungen des Müllsacks (zum Schutz der Riemen) heil an. Als Nächstes möchte ich zur Info und mich informieren, wie ich zum Hotel komme und am nächsten Tag nach Saint Jean Pied de Port, wo meine Pilgerreise starten soll. Info? Gibt’s da nicht. Sooo süß ist dieser kleine Flughafen in San Sebastian. Vielleicht gibt es vor dem Gebäude eine Auskunft für die Busse. Tja, auch nicht. Da es regnet und ich nicht weiß, in welcher Richtung das Hotel liegt, nehme ich mir ein Taxi. Das Ibis Hotel in Irun erfüllt seinen Zweck. Für 50 € pro Nacht habe ich ein eigenes Bad, ein einfaches Zimmer und ein mäßiges Frühstück. Dass diese Kleinigkeiten im Laufe der Reise zu kostbaren Schätzen werden, konnte ich in diesem Ausmaß noch nicht ahnen. Aber ich freue mich definitiv, noch eine Nacht ohne Schlafsack zu verbringen. Ich gönne mir im Hotel einen Burger mit Pommes, da das Wetter zu schlecht ist, um ein Restaurant außerhalb zu suchen. Es stürmt, windet und schüttet. Die Pyrenäen konnte ich bisher im Nebel nur erahnen. Morgen geht es endlich richtig los, ich muss nur irgendwie nach Saint Jean Pied de Port kommen. Aufregend, aufregend und wieder bin ich hibbelig und nervös.
Ich denke nachts noch an den Abschied von Markus. Es war schwer, da wir eigentlich noch nie voneinander getrennt waren. Aber es war ok, weil ich weiß, dass er auf mich wartet, mich liebt und da ist, wenn ich wieder aus dem Flugzeug steige in 5 Wochen. Er wird mich irgendwie ja auch begleiten. Sein Schutzengel, den er mir vor der Abreise geschenkt hat, hängt an meinem Rucksack und das kleine Glöckchen wird mich bei jedem Schritt an ihn erinnern. Ich bin mir erst seit wenigen Tagen bewusst, dass er mich liebt und dass ich ihn liebe, von ganzem Herzen. Ich danke ihm in meinen Gedanken für seine Geduld und sein Vertrauen in mich.
Saint Jean Pied de Port – 25.03.2014
Los ging der Tag in Irun um 7 Uhr. Da konnte ich nicht mehr schlafen und ich wollte möglichst bald aufbrechen, um vielleicht sogar noch eine Etappe zu laufen. Frühstück im Hotel war nicht wirklich der Knaller, aber ich kann mir einen Apfel und Wasser mitnehmen.
Die Dame an der Rezeption versucht mir anschließend verzweifelt den Weg zum Zug zu erklären. Da ich kein Spanisch verstehe, bin ich auf ihre selbst gekritzelte Karte angewiesen. Was soll ich sagen. Ich habe mich natürlich verlaufen, bevor der Weg überhaupt losgeht. Ich finde irgendwann Gleise und folge ihnen bis ich an einer Metro Station ankomme. Und von dort komme ich zumindest nach Hendaye in Frankreich. Dort stürme ich voll Tatendrang in den Bahnhof. Ich habe noch dieses „Ich kann alles Gefühl, weil ich alleine die Metro gefunden habe!“. Nun ja. Nach Bayonne komme ich noch relativ schnell mit dem TGV, der schon einstiegbereit am Gleis steht. Dann der erste Dämpfer: Die Bahnen in Frankreich streiken teilweise und so fällt der Zug nach Saint Jean Pied de Port aus. Es gibt einen einzigen Bus an diesem Tag, der abends um 18.40 Uhr fährt. Als ich das erfahre, ist es gerade mal 11 Uhr. So vertrödele ich den Tag in Bayonne mit Sightseeing, Essen und Trinken. Ich besichtige die Kirche in Bayonne und verewige mich in einem Buch, in dem bereits viele Pilger ihre Unterschrift abgegeben haben. Ich frage mich, ob ich so etwas wie eine religiöse Motivation habe zu pilgern. Aber ich habe keine Antwort und denke auch nicht weiter darüber nach. Denn eigentlich habe ich keine religiöse Motivation. Ich bin einer dieser minimalistischen, evangelischen Gläubigen. Ich gehe Weihnachten in die Kirche und zahle Kirchensteuer. Und das war’s.
Herumlaufen, Kaffee, Sightseeing, Essen, Lebensmittel kaufen, und Zeit am Bahnhof absitzen. Was mir allerdings einen Strich durch die Rechnung macht, ist das Wetter. Immer wenn ich draußen war, schüttet es aus Kübeln. Vorausschauend hatte ich heute schon Regenwanderklamotten an. Irgendwann war es soweit und der Bus bereits proppenvoll mit Pilgern. Ein Funken Vorfreude kommt auf. Auch die anderen sind voller Erwartungen und man kann den ersten Annäherungsgesprächen lauschen: „In wie vielen Tagen möchten Sie es schaffen?“, „Wo kommen Sie her?“, „Was, Sie laufen schon zum zweiten Mal den Camino?“. Ich verkrümele mich in meinem Sitz. Mir ist so schon alles zu viel, ich möchte nicht auch noch deutschen Rentnerpilgern Rede und Antwort stehen. Vor allem, weil ich manchmal selber noch keine Antworten auf manche Fragen habe. Es hat etwas von Klassenfahrt. Ein Pilger geht nach vorne und fotografiert nach hinten einmal den kompletten Bus. Darf der das überhaupt datenschutzrechtlich?
Je weiter wir ins Landesinnere fahren, umso hügeliger wird die Landschaft. Oh, da kommt wieder ein Kreisverkehr. In der Stadt gab es davon schon eine ganze Menge. Die „Berge“ werden immer höher und teilweise sieht man Schnee, der Rest verschwindet in den Wolken. Sch****, ich dachte wirklich, dass ich gutes Wetter haben würde. Kreisverkehr. Toll, wie der Busfahrer uns durch die schmalen Landstraßen fährt. Kreisverkehr. Mann, die hätte man echt mal mitzählen müssen. Kreisverkehr. Es wird zunehmend dunkler. Immerhin sehe ich so in Saint Jean keine Berge mehr, dafür regnet es immer noch. Als ich aus dem Bus aussteige und gerade meinen Rucksack schnappe, rennen viele Pilger schon los. Da ich vor dem Bahnhof stehe und eigentlich keine Ahnung habe, wo ich jetzt eigentlich nachts um 22 Uhr hin soll, folge ich der Gruppe. Ich hole Stina, eine deutsche, übergewichtige Pilgerin, ein und frage, wo alle hingehen. „Ins Pilgerbüro, dort bekommen wir den Stempel und eine Unterkunft!“ Klingt gut, also hinterher. Im Pilgerbüro lasse ich mich auf einen Stuhl fallen und lasse allen anderen aufgeregten Deutschen den Vortritt. Das ist ja so typisch deutsch: Anstehen und als Erstes dran kommen wollen. Naja, diesmal hätte ich mal lieber auch typisch deutsch sein sollen. Der Pilgerpass ermöglicht die Übernachtung in den Herbergen und ist Beweis für die Pilgerschaft. Am Ende bekommt man damit in Santiago seine persönliche Compostela ausgestellt. Außerdem erhalte ich hier meine Jakobsmuschel, die ich an meinem Rucksack anbringe. Ein Zeichen für die Jakobspilger. Als ich dran komme und meinen ersten Stempel bekomme, heißt es, dass das städtische Refugio voll sei. Umpf… Keine Sorge, Eric käme und würde uns in seiner privaten Herberge unterbringen. Na ok. Dann noch der Hinweis, dass alle Wege über den Gebirgspass aufgrund von Schneefall gesperrt seien. Komisch, hier ist doch kein Schnee. Naja, egal, die werden schon wissen, wovon sie reden. Als Eric da war, ein Herr mittleren Alters und voll guter Laune, nimmt er mich und 6 weitere männliche Pilger mit in seine Herberge. Diese ist ein baufälliges Haus aus dem 15. Jahrhundert, welches er aktuell renovieren lässt. In dem Haus ist es eiskalt, wir müssen die Schuhe noch im EG ausziehen und er möchte unsere Pässe stempeln. Dann verlangt er 17 € von uns, was ich für eine Frechheit halte. Eric hält uns noch einen Vortrag über den Weg. Er meint es gut und die Tipps sind nicht die schlechtesten. Er sagt, wir werden unseren Körper zuerst kennen lernen. Wir sollen auf ihn hören. Und der Camino ist kein Wettrennen. Mir gerade egal, ich rege mich so sehr über die Unterkunft auf. Innerlich natürlich. Das bezeichnet man als Kulturschock. Ein erster Camino Kulturschock. Das Zimmer ist die nächste Frechheit. 6 Stockbetten in einem kalten Raum, daneben ein Gemeinschaftsbad. Immerhin gibt es warmes Wasser. Ich dusche nur noch, föhne meine Haare und gehe ohne Abendessen ins Bett. Ich habe immerhin noch den Galgenhumor, um an meinen Proviant im Rucksack zu denken, der bei den Temperaturen sicher nicht schlecht wird und man sich den Kühlschrank spart. Schlafen kann ich kaum… Es ist zu kalt und außerdem schnarchen die werten Herren in meinem Zimmer. Ein paar wenige Stunden voll Schlaf werden es dann allerdings doch noch.
Roncesvalles – 26.03.2014
Argh, wer wollte nochmal, dass ich das hier mache? Um ca. 6.30 Uhr regen sich meine Mitpilger und wir packen unsere Rucksäcke. Um 7 Uhr gibt es dann Frühstück. Frühstück … Hmpf… Kaffee aus einer Müslischale, trockenes Baguette und Riesenmarmeladentöpfe mit einem Löffel drin. Tja, es war ja zu erwarten, dass das Frühstück nicht besser wird als die Übernachtung. Um 7.30 Uhr schultere ich meinen Rucksack, trete aus dem Haus und murmle vor mich hin „Und los!“. Wenige Schritte weiter halte ich, weil ich überhaupt nicht weiß, in welche Richtung ich gehen muss.
Ich treffe Stina wieder, die im Refugio übernachtet hat, und wir fragen uns zu den ersten Muschel- und Pfeilwegweisern durch. Ich laufe mit ihr, bis wir aus Saint Jean raus sind. Sie erzählt mir, dass sie eigentlich in Deutschland starten wollte und es auch mal probiert hatte. Nach ein paar Tagen beendete sie ihre Reise, da die Deutschen sie für eine Obdachlose und Pennerin gehalten haben. Da sei ihr der Spaß an der Sache vergangen, da die Menschen sie sehr schlecht behandelt hätten. Und deswegen laufe sie jetzt in Spanien, da hier ja alle so unterwegs seien und das Pilgern nichts Außergewöhnliches ist. Danach ziehe ich mein Tempo etwas an, da sie mir zu langsam läuft. Wir verabschieden uns und dann bin ich auf dem Weg. Die ersten km sind unspektakulär. Man begegnet vielen anderen motivierten Pilgern. Die Motivation rutscht in den Keller, als es anfängt zu regnen. Ich packe meinen Europa Park Poncho aus dem Rucksack und sehe nun aus wie ein laufender Müllsack. Ich zeige dem Himmel den Stinkefinger. Es muss jetzt einfach mal raus, was ich von der Gesamtsituation halte. Die weiteren 5 bis 10 km laufen sich auch noch gut. Immer wieder begegnet man Pilgern, die man vom Sehen schon kennt, dann verschwinden sie wieder, um irgendwo wieder unvermittelt aufzutauchen. Ich bin nie allein und die Menschen, die ich treffe, machen mir keine Angst. Ich merke sofort, dass der Camino verbindet. Man kommt schnell mit anderen Menschen jeden Alters ins Gespräch. Sepp aus der Schweiz läuft den zweiten Teil seines Caminos. Er startete im Vorjahr in der Schweiz und lief nach Saint Jean. Und in diesem Jahr läuft er von Saint Jean noch nach Santiago. Warum die anderen Menschen laufen, weiß ich nicht und ich frage auch nicht. Es ist mir zu persönlich und ich möchte mich gerade noch nicht damit beschäftigen, da ich anfange mit meiner Kondition und meinem Körper zu kämpfen.
Die Route über Valcarlos läuft hauptsächlich entlang der Straße und ist nicht besonders einprägsam. Als der Aufstieg hart wird, verwandelt sich der Regen in Schnee. Immer weiter nach oben und irgendwann liegt am Straßenrand kniehoch der Schnee. Die Pyrenäen schauen mittlerweile toll aus, hügelig und voll Schnee, die Gipfel verschwinden in den Wolken. Ich kriege das aber nur so am Rande mit, denn ich kämpfe. Ich kriege Probleme in der Leiste und kann mein linkes Bein nur nachziehen. Dadurch verkleinern sich meine Schritte und ich muss beißen, um überhaupt vorwärts zu kommen. Meine Schuhe sind durchnässt und das Ziel nicht in Sicht. Es gibt mehrmals die Möglichkeit über Waldwege voll Schnee abzukürzen. Ich entscheide mich dagegen, weil ich meine Füße nicht weit vom Boden abheben kann und der Schnee mich erledigen würde. Ich schleppe mich lieber die Straße in Serpentinen hoch. Ich fluche laut vor mich hin. Weinen kann ich kaum, dafür habe ich keine Kraft.
In einer Serpentine, die ich mich alleine hochschleppe, wartet ein Spanier auf mich. Er fragt mich, ob ich gerne einen Keks möchte. Ich weiß nicht warum, aber dieser Satz treibt mir dann doch die Tränen in die Augen. Mitten auf dem Weg, kurz vor dem Verzweifeln und am Ende meiner Kraft, kommt genau das, was ich brauche: Zucker, eine Begleitung und viel Menschlichkeit. Und auf einmal kommen mitten aus dem Schnee nochmal 2 Venezueler und eine Ungarin. Nun sind wir eine Gruppe und es läuft sich wieder leichter. Reden kann keiner. Jeder kämpft für sich. Irgendwann erreichen wir eine Kirche auf einer Kuppe. Wir sind oben auf dem höchsten Punkt angekommen und in Spanien. Ein Gefühl der Erleichterung und Freude. Außerdem bekomme ich die Info, Roncesvalles sei nur noch 2 km entfernt. Also geht es nun bergab, was neue Probleme mit sich bringt, denn jetzt melden sich alle möglichen Muskeln. Aber wir kommen an und werden in einem Kloster für 10 € herzlich aufgenommen. Der Mann am Empfang spricht viele Sprachen und begrüßt jeden Pilger in seiner Sprache. Ich bekomme das Bett 120 zugeteilt. Es ist eines der oberen Betten in einem großen Raum, in dem die Stockbetten in eine Art Vierer-Abteilungen aufgeteilt waren. Es ist relativ neu und die Waschräume haben ausreichend Duschen. Ich kann meine Wäsche waschen und trocknen. In einem warmen Trockenraum hänge ich alles über Nacht auf. In meinem Viererabteil liegt der chinesisch-stämmige Australier Bo, der deutsche Referendar Tobias und die junge Ungarin Anita. Ich schreibe mein Tagebuch und halte vor allem die gelaufenen km und Schritte fest (Wen es interessiert: 43.179 Schritte, ca. 27 km in 6h 40 min). Liegen fühlt sich gut an. Ich komme mit meinen Abteil-Mitbewohnern ins Gespräch. Es dreht sich erstmal um das Wichtigste: Abendessen. Das gibt es in einem Restaurant neben dem Kloster für 9 €: Pilgermenü. Wir organisieren zusammen mit Bekannten der Anderen einen Tisch für 9 Leute.
Ich lerne Peter aus England kennen. Er ist ein Ex-Soldat. Er ist ungefähr Mitte 50 und pensioniert, da er aufgrund seiner Schussverletzungen in Afghanistan nicht mehr arbeiten kann. Er redet viel und ich erfahre, dass er den Camino zum 8. Mal läuft. Er will mir sofort Tipps zu Herbergen auf dem ganzen Weg geben, aber ich bin wie überfahren und kann mir überhaupt nichts merken. Er fragt mich die Frage, der ich heute bewusst aus dem Weg gehen möchte. „Why are you walking the camino?“ Ich antworte „Vacation.“ Urlaub. Er schaut mich zweifelnd und interessiert an. Er sagt, keiner läuft den Weg als Urlaub und nur so. Keiner läuft den Weg aus Zufall. Das lasse ich so stehen und wir gehen essen. Das Menü besteht aus Suppe, Fleisch mit Pommes und einem Obstsalat. Dazu gibt es Rotwein und Wasser. Nach dem Nachtisch hätten wir das Menü nochmal essen können, so hungrig sind wir. Die Runde mit den Venezuelern, einem Spanier, Dylan aus Idaho, Peter, Tobias, Anita und ihre ungarische Freundin Brigitta ist fröhlich und wir erfahren mit zunehmendem Alkoholpegel ein bisschen über die Anderen. Anita (27) und Brigitta (ich glaube, sie war 40) haben Kinder, wobei Brigitta eine Trennung verarbeitet. Tobias möchte sein Englisch für sein Referendariat aufbessern. Was Dylan auf dem Weg macht, weiß ich nicht. Peter meint, er sucht eine Frau. Ich erzähle von meiner Beziehung und bei dem Altersunterschied von Markus und mir bekommen alle lange Ohren. Wir verpassen vor lauter Reden die Pilgermesse, die wohl sehr schön gewesen sein soll. Als ich letztendlich im Bett liege, schlafe ich sofort ein und tanke ordentlich auf.
Zubiri – 27.03.2014
Um 5.30 Uhr beginnen die ersten übermotivierten Pilger ihre Sachen zu packen. Ich kann nicht mehr weiterschlafen bei dem Geraschel und beginne mich ebenfalls gangbar zu machen. Um kurz nach 7 Uhr breche ich auf und irgendwie sind wir auf einmal eine Gruppe: Anita, Brigitta, Tobias und ich. Es schneit weiterhin und das Erste, was wir nach dem Kloster sehen ist ein Straßenschild nach Santiago mit der Angabe 790 km. Na, wenn das nicht motiviert. Wegen des Schnees trägt jeder seinen Poncho. Ein wandelnder Müllsack läuft mit anderen Müllsäcken 790 km durch Spanien. Ok, kein Problem. Wir laufen weiterhin auf der Asphaltstraße, da die Waldwege bei dem Schnee einfach keine Option sind. Zu Beginn bin ich überrascht wie gut ich laufen kann, nachdem mir gestern alles wehgetan hat. Unser Frühstück besteht aus abgepackten Schokohörnchen, die wir unterwegs in einem kleinen Supermarkt mitnehmen.
Nach wenigen km kommen alle Schmerzen zurück. Ich ziehe wieder mein Bein hinter mir her und die Schritte werden kleiner und schwerer. Unsere Gruppe läuft nun nicht mehr zusammen, sondern hintereinander mit großen Abständen. Brigitta verlieren wir bereits nach wenigen km. Dann hänge ich hinterher, aber ich halte mich tapfer und schließe immer wieder auf. Meine Gedanken kreisen vor allem um die Worte Hoffnung und Zuversicht. Trotz Schmerzen laufe ich. Trotz Problemen halte ich einigermaßen das Tempo, weil ich gerne Gesellschaft habe. Irgendwann biegen wir doch in einen Feldweg ein, da der Schnee nun weniger wird. Die Straße ist Gift für die Gelenke. Wir laufen hinauf zum Alto de Erro. Ein Anstieg wie aus dem Bilderbuch, und ich dachte, es geht nur bergab! Als wir zu einem Aussichtspunkt gelangen, den man auch über die Straße erreicht, machen wir Pause. Und zum gleichen Zeitpunkt taucht Brigitta wieder auf, zusammen mit Peter und einem Kanadier namens Ryan. Die drei sind entlang der Straße gelaufen.
Mit dem Abstieg wurde der Weg immer matschiger und rutschiger. Einmal rutsche ich weg und liege mit einer Hand im Matsch. Zu dem Zeitpunkt liegt kein Schnee mehr. Der Abstieg ist hart und meine Knie sind heiß und pochen wie verrückt. Nach 23 km erreichen wir das Dorf Zubiri. Ich bin überglücklich und mein Tag ist hier beendet. Die Ungarinnen haben nur begrenzt Zeit und müssen Strecke machen, also verabschieden wir uns und sie laufen weiter. Natürlich machen wir vorher noch ein Bild, um uns nicht zu vergessen. Das Wetter ist auf einmal wie ausgewechselt. Es ist warm, trocken, die Sonne scheint und wir sind um 13.30 Uhr schon am Ziel. Die Wäsche übernimmt heute die Waschmaschine in der kleinen Albergue, die von Maria geführt wird. So sitzen wir bald frisch geduscht in der Sonne, die Schuhe trocknen an die Hauswand gelehnt und wir lassen es uns gut gehen. Die Albergue war ein Tipp von Peter, der uns vor der städtischen Herberge im nächsten Ort ausdrücklich gewarnt hat. Da mir zum Einen nicht nach weiterlaufen und zum Anderen nicht nach einer schrecklichen Herberge war, bin ich vollends zufrieden mit meiner Wahl. Die Herberge hat mehrere Zimmer und mein Zimmer hatte insgesamt 7 Betten und war somit klein und gemütlich. Tobias wird bei mir mit untergebracht und im Laufe des Abends stoßen zwei Koreaner und Judith, eine 59-jährige Australierin, zu uns in das Zimmer. Judith ist reserviert, aber aufgeschlossen und freundlich. Sie zeigt uns stolz ihre Tattoos am Fußrücken, ein bunter Stern für jedes Familienmitglied. Ryan, der junge Kanadier (ich glaube, er war 23 oder 24) erzählt uns in der Sonne, dass er Probleme mit anderen Menschen hat. Dass er keine Menschen mag und lieber alleine ist und deshalb oft als überheblich gilt. Hm. Naja, immerhin kennt er sein Problem. Ich finde ihn aber eigentlich ganz sympathisch, außer das er sonst nicht viel redet. Da der Tag noch jung ist gehen Peter, Tobias und ich um ca. 18 Uhr in ein Restaurant und beginnen mit einer Flasche Rotwein. Wir reden und reden über Peter und Tobias. Tobias verstellt sich zu Hause, kann nicht er selbst sein. Ich denke, dieses Problem hat jeder mehr oder weniger in manchen Situationen. Ich halte mich zurück und lausche.
Als Tobias eine Jacke holen geht, fragt Peter mich wieder, warum ich laufe.Ich bin angeschwipst vom Rotwein und versuche meine Situation weiter zu erklären. Von unserer Beziehung und wie mein Freund Markus mich dazu motiviert hat, mich selbst zu finden. Bald unterbricht mich Peter und er fragt, ob ich meinen Freund liebe. Ich antworte mit Ja. Ohne einen Zweifel. Dann fragt er, ob ich mich selbst liebe. Ich antworte schnell, weil ich die Antwort schon lange kenne, aber nie ausgesprochen habe: Nein. Peter sagt, dass das der Grund ist, warum ich laufe. Und dann sprudelt es aus mir heraus. Die schwierigen Momente zu Hause, mit dem Druck einen Job zu finden, mit dem Druck es jedem irgendwie Recht zu machen. Während dem Gespräch reiße ich mir die Haut um meine Fingernägel blutig, weil ich so nervös bin. Dass ich nun fremden Menschen einen derart tiefen Einblick in mein Innerstes gewähre, ist mir fremd. So gut kennt mich eigentlich nur einer.
Als wir dann unser Pilgermenü verspeisen, kommen immer mehr Pilger in das Restaurant. Peter und Tobias schauen verdutzt, als ein großer, schlacksiger Mann in Wanderklamotten in das Restaurant kommt. Adrian, ein 38-jähriger Ire, war wohl 5 km weiter in die städtische Herberge gelaufen. Diese sei aber so dreckig gewesen, dass er wieder zu uns zurück gelaufen sei. Die Matratzen wären wohl fleckig und feucht gewesen. Ich schüttle den Kopf. Nichts in der Welt hätte mich zum Zurücklaufen veranlasst. Lieber wäre ich noch weiter gelaufen, aber nicht zurück. Nun gut, wir haben einen weiteren Laufpartner, der sich bald verabschiedet und wie tot im Bett liegt. Die Klamotten sind gewaschen, getrocknet und ordentlich zusammengefaltet, als wir aus dem Restaurant zurückkehren. Was für ein Luxus! In dieser kleinen und warmen Herberge schlafen wir ausgezeichnet.
Pamplona- 28.03.2014
Wir starten um 7 Uhr ohne Frühstück. Wir, das sind heute Peter, Tobias, Ryan, Adrian und ich. Nach ca. einer Stunde kommen wir an einem wunderschönen Cafe vorbei, das an einem Fluss liegt. Wir trinken Milchkaffee und essen ein Bocadillo (Baguette Sandwich) mit Tortilla (Eier-Kartoffel-Omelette). Hier hole ich mir einen Stempel und die Betreiber zeigen uns voller Stolz ihren neuen Stempel. Tobias und ich bekommen den ersten Stempel und die Betreiber machen ein Bild von uns und unseren Pilgerpässen.
Der Weg ist einfach, das Wetter ist gut und ich muss mein Bein nicht mehr nachziehen. Diese Freude über die wiedergewonnene Mobilität veranlasst mich dazu mit den anderen Schritt zu halten. Wir sind herrlich schnell! Es fühlt sich an wie fliegen. Wir warnen uns gegenseitig vor Kackehaufen auf dem Weg und helfen uns bei unwegsamen Stellen gegenseitig. Bis… wir kurz vor Pamplona auf dem Asphalt weiter müssen. Der Asphalt erinnert mich mit voller Wucht daran, dass ich Knie Schmerzen habe und ich nicht so hätte übertreiben sollen. In Pamplona bleiben wir in der Casa Paderborn, eine von deutschen Freiwilligen betriebene Herberge. Mittlerweile komme ich kaum mehr eine Treppe hoch oder runter. Hier werden Frauen und Männer getrennt.
Als ich um 12 Uhr in das Zimmer komme, liegt Stina im Bett, die stärkere Deutsche, mit der ich in Saint Jean losgelaufen bin. Ich frage überrascht, wie sie vor uns da sein kann. Sie erzählt mir, dass sie gesundheitliche Probleme hatte. Sie ist mit dem Bus nach Pamplona gefahren und dort in das Krankenhaus. Sie hat in diesen zwei Tagen über 10 kg abgenommen und muss jetzt langsamer laufen und öfter rasten. Ich bin beeindruckt von ihrem Willen, denn sie gibt nicht auf. Die Wäsche geben wir wieder zum Wäscheservice. Anschließend wird mir gesagt, dass ein Heiler da ist. Wolf, ein älterer Deutscher, der mittlerweile als Hospitalero in der Nähe von Leon arbeitet, ist ab und an bei den deutschen Kollegen und gibt den Pilgern Tipps und legt Hände auf. Ich habe auch eine Behandlung bekommen, wobei der Erfolg des Hände Auflegens eher mäßig war. Aber er checkt den Sitz meines Rucksacks und stellt meine Riemen komplett neu ein. Was für ein Unterschied. Ein gut sitzender Rucksack ist viel wichtiger als das Gewicht, das man trägt. Anschließend besichtigen wir Pamplona, die Stadt des Stierkampfes. Eine wunderschöne Stadt mit viel Flair. Wir essen in einer Bar, die voller Studenten ist. Ich fühle mich nicht gut. Die Schmerzen sind schlimm, ich fühle mich fiebrig. In der Herberge nehme ich eine Schmerztablette und schlafe schlecht, obwohl nur zwei weitere Frauen in dem 4-Bett Zimmer sind.
Puente la reina- 29.03.2014
Ich bin bereits um 5 Uhr wach. Die Dielen in dem alten Haus knarzen laut, der Fluss hinter dem Haus rauscht, und die Fensterläden klappern im Wind. Bereits um 6 Uhr sitze ich lauffertig beim Frühstück, das zur Abwechslung mal als solches durchgeht. Peter, Adrian, Ryan, Tobias und ich brechen gemeinsam um 7 Uhr auf, sobald es hell genug ist. Ich kann nicht beschreiben, wie unglaublich stark meine Knieschmerzen sind. Und mit jedem Schritt verstärkt sich der Schmerz noch weiter. So quäle ich mich im Schildkrötentempo der Gruppe hinterher. Auf dem Weg erzählt mir Peter von dem Film „Dein Weg“, den ich bis zu diesem Tag nicht kannte. Peter, der regelrecht vom Weg gefangen ist und bereits zum achten Mal geht, kennt jede Szene auswendig, zitiert und zeigt uns die Drehorte unterwegs. „Look, this is where Martin Sheen meets the Canadian woman!“, sagt er in einem idyllischen, spanischen Dorf. „This ist the place, where the Canadian woman joins Martin Sheen and the dutch guy!“, kreischt er vor einer kleinen, spanischen Kirche. Überall mache ich Bilder, da ich das Ganze später beim Film schauen zuordnen möchte.
Heute geht es eine Bergkette hinauf, den Alto del Perdon. Nach oben funktioniert mit den Knieschmerzen relativ gut. Oben auf dem Berg höre ich ein Lied im MP3-Player, welches für mich auf den Gipfel eines Berges gehört: „Atlas“ von Coldplay. Auf dem windigen Gipfel mit den rostigen Blechfiguren habe ich einen wunderschönen Rundumblick über das hügelige Land. Ich halte meine Nase in den Wind und lausche dem Lied. So fühlt sich Freiheit und Glück an. Im Moment leben. Das denke ich mir, als ich dort stehe und meine Schmerzen für einen Moment vergesse. Das Glück währt nur kurz, denn wir beginnen mit dem Abstieg. Na gut, die anderen springen den steinigen Weg hinunter wie Bergziegen. Ich hingegen versuche die Bewegungsfolge zu finden, die am wenigsten schmerzt. Dabei bin ich langsam wie eine Schnecke. Da das linke Knie mehr schmerzt, steige ich damit zuerst nach unten ohne es zu beugen, damit ich das rechte Knie beugen muss. Das tut weniger weh und so quäle ich mich bergab. Den Rest der Etappe laufe ich allerdings allein, da ich nicht mithalten kann oder will. Ich habe Angst, mich körperlich zu überfordern. Ich weine fürchterlich, als ich so alleine laufe. So schnell stößt ein Mensch auf Grenzen. Und dabei ist es „nur“ ein Weg. Kaum große Hindernisse im Weg und doch so mächtig. Wir Menschen sind abhängig von unserem Körper. Wir sollten uns darüber besser bewusst werden und es zu schätzen lernen. Und auf einmal höre ich eine Stimme in mir, die mir sagt, dass ich stark bin und es schaffen kann. Sei du selbst, sei selbstbewusst und beiße. Ich fluche, singe und schimpfe laut vor mich hin und ich schaffe es.
Die Gruppe wartet ab und an auf mich. Das Gefühl, erwartet zu werden, ist wunderschön. Ich muss beinahe wieder weinen, als ich alle bei einem Glas Cola wieder in einer Bar antreffe. Peter erzählt mir später, dass sie mich absichtlich so lang allein gelassen haben. Damit ich kämpfen sollte. Teilweise hatten sie sogar befürchtet, ich würde einen Ort früher stoppen. Gut, ich habe darüber nachgedacht. Aber es hätte meine Schmerzen nicht besser gemacht und ich hätte die Gruppe verloren. Ohne genau zu wissen wie und warum habe ich es mit den anderen nach Puente la Reina geschafft. Dort angekommen ist definitiv Schluss für mich. Das war das Tagesziel und das habe ich erreicht. Die zwei Jungs Ryan und Tobias möchten weiterhin Strecke machen und verlassen uns heute. Der Abschied ist nicht schwer, aber ich finde es trotzdem schade, da ich sie gerne noch näher kennen gelernt hätte. Die kleine Albergue im Ort ist eher weniger schick, eher zweckmäßig. Zu allem Überfluss fällt mir auf, dass ich mein großes Mikrofaserhandtuch in Pamplona vergessen habe. Argh… Der einzige Luxus, den ich besitze, neben meinem Fön. Das Duschen wird somit immer schwerer, und ich versuche mich mit den zu waschenden, stinkenden Klamotten abzutrocknen. Funktioniert aber zum Glück einigermaßen und die Waschmaschine wäscht dann alles.
Es stoßen nun immer mehr Spanier von anderen Routen auf den Jakobsweg. Die Pilger, die mit mir in Saint Jean gestartet sind, sind nun überall auf dem Weg verteilt, vermute ich. Heute sind wir auch nur zwei anderen Pilgern unterwegs begegnet. Ich muss an Stina denken. Peter erzählte mir heute, dass sie sich geritzt hat in Deutschland. Sie hat ihm gestern in Pamplona ihre Narben gezeigt. Ich habe das nicht gewusst oder geahnt. Und wieder merke ich, dass alle Leute, die hier unterwegs sind, einen guten Grund haben zu laufen. Ich hoffe, ihr geht es gut. Ich habe heute das Gefühl, dass ich alles schaffen kann. Mit solchen Schmerzen sechs Stunden zu laufen ist schon mal Wahnsinn. Dennoch gönne ich mir heute viel Rotwein, um die Schmerzen zu betäuben, da Ibuprofen in Tablettenform nicht hilft. Was mich beruhigt ist, dass alle wie Krüppel laufen. Jeder hat seine Wehwehchen und meistens hat es mit Sehnen, Blasen, Krämpfen oder Knien zu tun. Anscheinend ist es doch normal und ich muss einfach weiterlaufen…
Peter und ich unterhalten uns in der Herberge bei einer Flasche Rotwein noch vor dem Abendessen über meine „Probleme“. Es ist gut, dass er da ist. Dass er jetzt gerade da ist. Für mich. Er bringt mich quasi auf den Weg. Er bildet mich zur Pilgerin aus, wäre die richtige Formulierung. Das Gespräch ist emotional und ich kann es nur schwer zusammenfassen. Aber im Grunde ist es Folgendes: Ich habe eine harte Schale um mich. Ich schütze mich selbst vor allem möglichen. Ich lasse es nicht an mich heran, dann kann es mir schon nicht wehtun. Ich lasse keine Gefühle zu, denn die sind, wie ich aus jüngsten Erfahrungen weiß, stark und heftig. Ich bin ein großer Angsthase. Ich bin unterwegs, damit ich meine negative innere Einstellung ablegen kann. Damit ich mich öffne. Damit ich weiß, wer ich bin und warum ich es wert bin, geliebt zu werden. Ich werde kämpfen, werde laufen und mich öffnen. Nur so wird diese Reise für mich besonders! Und ich werde es schaffen.
Zum Abendessen gehen wir in eine Bar, die Peter bereits von vorherigen Pilgerreisen kennt. Der Barbesitzer erinnert sich an Peter, als er ihn auf seinen Orangenbaum anspricht. Peter hat wohl damals gefragt, ob die Orangen für den Saft frisch seien. Der Barbesitzer war daraufhin ganz empört und sagte, seine Orangen seien die allerfrischesten, da er einen eigenen Orangenbaum habe. Peter glaubte ihm nicht und durfte daraufhin seinen Baum begutachten und eine Orange pflücken. Der Barbesitzer strahlt uns an und ist begeistert, dass Peter ihn wieder beehrt und auch noch Kundschaft mitbringt. Also winkt er uns alle in seinen Garten zu dem Orangenbaum und jeder bekommt eine frische Orange vom Baum. Ein unvergessliches Erlebnis.
Das Abendessen ist lecker. Hier bekomme ich die beste Paella überhaupt und auch mein Fisch schmeckt köstlich. Ein Kind im Laden zündet einen Böller, was Peter zusammen zucken lässt. Es versetzt ihn in eine komplett andere (militärische) Welt zurück. Armer Kerl. Auf dem Rückweg besichtigen wir noch die kleine Kirche im Ort. Wie bei allen spanischen Kirchen wurde hier viel Gold verarbeitet. Es ist herrlich ruhig. Adrian betet, gedenkt wahrscheinlich seiner Mutter, wegen der er pilgert.
Wir trinken auch in der Herberge noch, wobei Peter ein richtiger Trinker ist. Ich rede mit Christa, einer Deutschen, deren Mann aus Gambia, Afrika, stammt. Die zwei haben einen auch relativ großen Altersunterschied. Sie möchte einfach mal was für sich machen, nachdem ihr Mann oft seine Familie besucht oder beruflich unterwegs ist. Wahrscheinlich steckt noch mehr dahinter. Ich gehe dann auch schnell ins Bett, schließlich muss ich mich irgendwie noch erholen. Die Nacht im Zimmer mit sechs Männern wird für mich sehr unruhig, da Schnarcher dabei sind. Aber was soll es, immerhin habe ich ein Bett. Und angeblich schnarche ich genauso zurück.
Estella- 30.03.2014
Am nächsten Morgen fühle ich mich wie überfahren aufgrund der Schmerzen und der Kater vom Rotwein tut sein Übriges. An Frühstück ist nicht zu denken und die Aussicht auf die anstehende Wanderung macht es nicht besser. Adrian läuft ohne uns los. Peter frühstückt, hat aber ebenso einen Kater. Die erste Hälfte der Etappe (Peter sagte gestern noch: „There will be no climbs the next day!“) beginnt mit einem steilen Anstieg… Danke Peter für die Vorwarnung. Immerhin habe ich kaum Schmerzen. Nach den ersten kleinen, aber steinigen Abstiegen melden sich meine Knie zurück und zusätzlich noch der rechte Knöchel. Ab dem Punkt werden die km wieder lang. Aber bis Estella habe ich es dennoch gut ausgehalten.
In der Jugendherberge kann jeder für 14 € ein eigenes 4 Bett Zimmer beziehen, absperrbar und da ich zu dem Zeitpunkt die einzige Frau in der Herberge bin, hab ich sogar das Bad für mich alleine. Ich dusche also ausgiebig, creme mich ein, da ich Platz und Zeit habe. Platz, Licht, warmes Wasser, ein eigenes Zimmer. Luxus pur. Nach dem Wellnessprogramm lege ich mich ins Bett und schlafe zum ersten Mal nachmittags vor dem Abendessen und werde erst wieder wach als an meiner Tür Sturm geklopft wird. Peter, Adrian, ein weiterer Peter aus Cornwall und ich gehen in die Stadt, um etwas zu Essen zu organisieren. In einem Pub ähnlichen Restaurant bekommen wir Spaghetti und Oliven. Ich bleibe heute beim Wasser anstelle des Rotweins. Nach dem Essen sind zwar ein paar weitere Leute in der Herberge, aber ich gehe sofort wieder ins Bett. Das Zimmer muss doch ausgenutzt werden. Ich schlafe sofort ein und der Schlaf ist tief, fest und sehr erholsam.
Torres del rio – 31.03.2014
Das Frühstück in der Jugendherberge ist herrlich üppig. Cafe con leche, Toast, Süßes, frisches Obst, usw. Ich nehme ein bisschen als Proviant mit. Am Morgen besprechen viele die heutige Etappe. Es gibt zwei Möglichkeiten: Los Arcos mit ca. 21 km oder Torres del Rio mit knapp 30 km. Ich schieße mich schon fast fest auf Los Arcos ein, mehr traue ich mir nicht zu. Außerdem möchte Militär-Peter gern allein weiter und ich gehe davon aus, dass er mich und die Anderen an diesem Tag abhängt. Ich breche mit Militär-Peter auf, die anderen frühstücken ewig. Ich vermute in jedem Moment, dass er durchstartet mit seinem militärischen Stechschritt und mich abhängt. Aber wie durch ein Wunder kann ich an diesem Tag laufen. Ich laufe fast ohne Schmerzen und mit einer großen Ausdauer. Ich kann Peters Tempo halten. Was eine erholsame Nacht doch bewirken kann.
Unterwegs stoßen Cornwall-Peter und Adrian wieder zu uns. In Los Arcos lassen wir uns auf dem Platz vor der Kirche in einem Cafe nieder und gönnen uns eine Tasse Kaffee, nachdem Adrian und ich in der Apotheke Ibuprofen Gel gekauft haben. Wir fühlen uns alle relativ gut, also laufen wir alle zusammen weiter. Es wird mittags doch schon sehr heiß und die letzten km ziehen sich und sind hart. Aber wir ziehen es durch und als wir in der Casa Mariela ankommen, werden wir vom jungen Besitzer herzlich begrüßt. Dieser kennt Militär-London-Peter natürlich. Wenn man 30 km läuft, fühlt man sich unbesiegbar. Es ist ein herrliches Gefühl. Wir sehen heute viele Katzen und Hunde. Das Wetter ist super und der Weg ist herrlich leicht. Laufen ohne Cap ist allerdings bei knallender Sonne nicht zu empfehlen.
Nach dem Duschen betrachte ich meine Füße, die dort, wo die Socken enden, rote geschwollene Punkte haben, die jucken. Militär-Peter sieht es und meint, es wären auf jeden Fall Bettwanzen Bisse und ich solle diese keinem zeigen, da man mich sonst nirgendwo schlafen lässt. Diese Info löst bei mir Entsetzen aus. Krabbeltiere, Bettwanzen bereits nach so kurzer Zeit?? Igitt… Ich gehe erstmal zur Bar und hole mir ein Bier, das nach solch einer Strecke einfach herrlich schmeckt. Klar ist natürlich, dass es mich nach dieser Info jetzt überall juckt. Schon allein aus Einbildung. Ich gehe in diesem Moment davon aus, dass ich die Tierchen aus der ersten Nacht in Saint Jean mitgenommen habe. Während ich so in der Bar sitze und mein Bier trinke und Tagebuch schreibe, kommt eine deutsche Familie in der Herberge an. Sie haben einen großen Bollerwagen mit Gepäck dabei. Drei kleine Mädchen begleiten die Eltern: Finja, 1 Jahr, wird auf dem Rücken von Papa getragen; die Mittlere (Namen leider vergessen :/) mit ca. 3 Jahren, die teilweise läuft, teilweise im Bollerwagen mitgezogen wird und die große Ronja, 6 Jahre, die den ganzen Weg läuft. Respekt, für dieses Unternehmen mit den Kids, die das ganz locker und ohne Probleme mitmachen. O-Ton des Vaters: „Das Problem ist nicht das Laufen, die Probleme fangen immer abends in den Herbergen an.“ Außerdem treffe ich ein Pärchen aus Chicago, die ewig Zeit haben für den Weg und meist nur halbe Etappen laufen. Aber hey, meinen größten Respekt auch dafür, dass es junge Amerikaner in meinem Alter nach Europa und auf den Jakobsweg verschlägt. Auch hier hat der Film „The Way“ großen Einfluss gehabt, ich denke, sonst wäre das Phänomen Jakobsweg dort so ziemlich gar nicht bekannt.
Beim Abendessen sitzen wir alle zusammen an einem Tisch. Auch ein Österreicher gesellt sich zu uns. Das Essen ist gerade durch die Kids eher laut und wenig gemütlich, aber es belebt einfach herrlich… Ich bin zu schnell zu voll gegessen und verabschiede mich frühzeitig von der Gesellschaft und lege mich ins Bett. Dass die Nacht eine Katastrophe werden würde, habe ich zu dem Zeitpunkt noch nicht geahnt. Los ging es mit Unstimmigkeiten mit meinem Freund zu Hause. Mich plagt ein Hauch Eifersucht und Unverständnis. Ich brauche auch in der Ferne seine volle Unterstützung. Dann kommen die anderen Zimmerbewohner vom Abendessen und ich höre schon, wie sehr betrunken Militär-Peter ist, der wohl auch noch ein oder zwei Flaschen Wein dabei hat und auf dem Balkon leert. Dann beginnt das Schnarchen der anderen Zimmermitbewohner. Ich kann nicht einschlafen und auf einmal beginnt Peter im Bett gegenüber zu husten, zu spucken, sich auf dem Balkon zu übergeben, usw.
Ich bin angeekelt, mich juckt es überall und ich kann bis ca. 3 Uhr nachts nicht einschlafen.
Logrono – 01.04.2014
Ich wache an diesem Tag stinksauer und übermüdet auf. Ich ärgere mich über mich selbst, meinen Freund, Militär-Peter, der ohne Rücksicht auf andere trinkt, und über den gestohlenen Schlaf, den ich doch so dringend gebraucht hätte. Ich frühstücke schnell (der frisch gepresste O-saft hilft ein wenig) und schultere meinen Rucksack. Ich laufe mit den anderen, höre aber zum ersten Mal bewusst Musik über den MP3 Player, um mich nicht unterhalten zu müssen. Und ich höre Musik, die meiner Laune entspricht, nämlich Wut. Nein, ich höre kein Metal oder so, aber etwas Lauteres, Kämpferisches.
Die Strecke heute war leicht, aber es fühlte sich unglaublich schwer und hart an. Der Kopf war voll und der Körper vom Schlafmangel nicht fit. Peter versucht mich aufzupäppeln. Er fragt, was ich an mir denn mögen würde. Ich mag, dass ich durchhalte und kämpfe. So wie ich auch den Jakobsweg bis zum Ende laufen werde. Vieles mag ich an mir nicht. Meine Unsicherheit vorne weg. Peter hebt meine positiven Seiten heraus und pusht mein Selbstvertrauen. Unrecht hat er mit vielem nicht und ich weiß, dass auch mein Freund so denkt wie er. Also, warum kann ich es nicht einfach genau so sehen und schätzen, was ich an mir habe? Er erzählt mir, dass der Kanadier Ryan, der noch vor ein paar Tagen bei uns war, ihn gefragt hat, ob ich denn Solo wäre. So eine Info ist natürlich schon toll für das Selbstbewusstsein einer Frau. Begehrt werden ist ein tolles Gefühl, vor allem wenn man sich dafür nicht verstellen muss, sondern für das gemocht wird, was man wirklich ist. Und auf dem Jakobsweg verstellt sich keiner, zumindest keiner, der sich ernsthaft mit seinen Problemen auseinander setzt.
Kurz vor Logrono kommen wir an dem Stand von Felisas Tochter Maria vorbei, die uns einen Stempel gibt. Ich kaufe eine Muschelkette von ihr, die mich nun ununterbrochen begleitet. In Logrono gönne ich mir ein Einzelzimmer in einer Pension für 20 €. Ich brauche das einfach heute Nacht. Einmal mehr für mich alleine sein, dazu noch Handtücher und Bettdecke… Luxus. Ich kaufe ein Anti Insekten Spray und sprühe meine gesamte Ausrüstung und mich damit ein. Ich esse meine Einkäufe aus dem Supermarkt. Meine Hitzeblasen auf der Nase, die ich seit gestern mit mir herumtrage, werden schlimmer. Manche platzen auf und sind offene Wunden. Ich bin quasi entstellt.
Ich verlasse mein Zimmer an diesem Abend nicht mehr, schreibe Postkarten und gehe früh schlafen.
Najera -02.04.2014
Ich ärgere mich früh erstmal, dass meine Klamotten nicht alle trocken geworden sind. Ich laufe früh um 7 Uhr schon los und möchte irgendwo frühstücken, finde aber noch kein offenes Cafe. Das ärgert mich tierisch und ich laufe weiter. Ich fülle meine Trinkflasche mit Wasser an einem Brunnen und esse einen Apfel. Es ist zwar noch dunkel, aber da ich eine halbe Stunde durch Logrono brauche, wo alles beleuchtet ist, ist es nur halb so wild. Ich gehe davon aus, dass die anderen mich sowieso einholen werden. Die ersten 10 km sind wie in den letzten Tagen kein Problem. Der Weg führt an einem schönen See vorbei und ich beginne in meiner Einsamkeit sogar ein bisschen Tanz der Vampire vor mich hin zu singen. Immer lauter, bis ein paar Radpilger fröhlich grüßend an mir vorbei fahren. Dann ist es mir wieder peinlich.
Ich laufe eine Abkürzung und lasse somit das Städtchen Ventosa aus. Die Rioja Region ist rötlich braun, die Weinpflanzen sind noch verkümmerte, knorpelige Äste und das Wetter ist bedrückend. Und so laufe ich und laufe und ich begegne keiner Menschenseele. Die anderen sind nicht in Sicht und ich kämpfe und kämpfe und so alleine wie ich bin, werden die letzten km eine Tortur. Mir tut alles weh und ich schleppe mich nach Najera. Heute habe ich unterwegs nur ans Durchhalten gedacht. Ich wollte mir selbst und auch den anderen etwas beweisen. In Najera steuere ich die von Peter genannte Herberge an und bin die erste, die dort heute nach 28 km ankommt.Immerhin habe ich mich alleine zurecht gefunden und mich nicht verlaufen. Dennoch war es bedrückend alleine zu laufen. Ich dusche in der Herberge, die wirklich sehr schön ist, und richte mich, als ich unten Militär-Peter, Cornwall-Peter und Adrian ankommen höre. Die drei sind erleichtert, als sie mich sehen. Sie waren der Meinung, ich wäre abgereist. In Wirklichkeit waren die drei lediglich 20 Minuten hinter mir. Eine längere Pause mehr und sie hätten mich doch eingeholt. Aber es war wohl heute mein Schicksal, alleine zu laufen.
Ich treffe in der Herberge auf Richard, ein junger Deutscher um die 20 Jahre. Er fragt mich, ob ich mit ihm reden möchte. Ich bejahe, denn dazu sind wir ja alle hier. Aber dann kommt ein Text, den ich aufgrund meines mangelnden Drogenkonsums nicht folgen konnte… „Ich hatte voll die Erleuchtung, als ich mit zwei Ungarinnen unterwegs war! Wir sind alle Individuen. Aber trotzdem sind wir alle hier. Und wir sind alle Eins.“ Während er so vor sich hin philosophiert, dreht er sich seine Joints. Ich freue mich nur deshalb, weil er mit den zwei Ungarinnen Anita und Brigitta meinte und ich mich freue, dass beide noch zusammen laufen und es ihnen anscheinend gut geht. Als er nach 10 min wieder beim Urknall ankommt und über das Universum erzählt, schalte ich definitiv ab und denke mir: „Hauptsache er ist glücklich!“ Das ganze Zimmer riecht mittlerweile nach dem Gras. Als Militär-Peter das mitkriegt, scheißt er Richard so richtig zusammen. Dass es ja verboten sein, v.a. in Herbergen und er deswegen rausfliegen, bzw. in den Knast geht. Richard verabschiedet sich dann mit den Worten „Dann gehe ich eben auf den Berg.“ … Ich bin einen Moment sprachlos und frage mich “Welcher Berg????”.
Ich sehne mich jetzt nach einer warmen Mahlzeit und nachdem wir meine 12 Postkarten weggebracht haben, gehen Militär-Peter, Cornwall-Peter, Adrian und ich in ein sehr modernes Restaurant. Dort treffen wir das Neuseeländische Paar, von dem ich bereits gehört hatte. Die zwei sind in ihren Flitterwochen auf dem Jakobsweg. Nachdem der männliche Teil des Paars Probleme mit der Achillessehne bekommen hat, haben die zwei sich komplette Radmontur inkl. Räder und Radtaschen gekauft und radeln nun den Jakobsweg. Jedem das Seine. Oft habe ich zu dieser Geschichte den Kommentar gehört: „Na, die wollen es wirklich wissen, ob die Ehe Bestand hat!“. Ich bekomme in dem Restaurant Pastasalat, Fleischbällchen und Eis. Meine Füße tun auch ordentlich weh und nach dem Essen und einem schönen kühlen Bier gehe ich um 20 Uhr bereits ins Bett, um wieder Kraft für den nächsten Tag zu sammeln.
Granon – 03.04.2014
Als wir am nächsten Morgen zusammen aufbrechen (Militär-Peter, Lehrer-Peter, Adrian und ich) schläft Richard noch. Er will ja nichts überstürzen, hat er mir gestern noch erzählt und macht ca. 2 bis 3 Laufpausen pro Woche, wobei er am Tag ca. 15 km läuft. Na dann, viel Spaß noch und hab ein schönes Leben. Der Weg nach Granon ist leicht.
Ich beginne bewusst zu laufen. Ich setze einen Fuß bewusst vor den anderen. Ich beginne meinen Körper mit dem hinteren Fuß voran zu stoßen und mich nicht mit dem vorderen Fuß hinterherzuschleppen. Es ist ein ganz anderes Laufen. Ich nehme meine Atmung bewusst war und finde einen Rhythmus, der mich nicht aus der Puste kommen lässt. Obwohl vieles weh tut, kann ich laufen und es ist angenehm. Vergisst man die Schmerzen und das Laufen, fängt man an, sich auf sich selbst zu konzentrieren und sich selbst zu genießen. Mein Körper beginnt sich zu verändern. Es ist, als wenn ich langsam eingelaufen bin. Militär-Peter sagt, mein Fett an den Organen würde sich zuerst verbrennen. Ich denke, dieser Prozess ist ganz gut im Gange. Ich fühle mich gut. Wichtige Erkenntnis: Schritte verlängern bei gleichem Rhythmus. So läuft man automatisch weniger Schritte und die Distanz ist kein Problem mehr.
Und so beginnen zum ersten Mal meine Gedanken um mein Leben zu kreisen und nicht mehr um meine Schmerzen. Eigentlich geht es mir ja sehr gut. Ein gesundes Umfeld zu Hause, ein liebevoller Freund, gute Freundinnen, Gesundheit, schöne Momente. Was will man mehr? Das ist das Leben. Und davon hat man nur eins. In Granon peilen wir die Kirche an. Hier gibt es eine spenden basierte Unterkunft, die von freiwilligen Hospitaleras betreut wird. Ich bin skeptisch, als wir mittlerweile im Regen den Glockenturm ansteuern und frierend nach oben steigen. Als wir drinnen ankommen, verändert sich meine Laune schlagartig. Das Bild, das sich einem bietet, führt unwillkürlich zu dem Gefühl, willkommen zu sein. Im Ofen brennt ein Feuer, die Wärme ist sehr angenehm und füllt den ganzen Raum. Patrizia, die spanische Hospitalera, empfängt uns mit den Worten „Willkommen, wir haben auf euch gewartet. Ich habe gerade einen Eintopf auf dem Herd!“ Wir beziehen das Matratzenlager im oberen Teil des Raums. Natürlich erwartet uns hier kein Luxus. Aber das warme Wasser der Dusche tut gut.
Anschließend bekomme ich einen Tee während ich Tagebuch schreibe und der Unterhaltung der Peters mit der Hospitalera Patrizia lausche. Militär-Peter erzählt, dass er bereits in einer anderen Herberge in Granon übernachtet habe und der Betreiber verrückt sei. Patrizia, eine sehr direkte und forsche Frau, sagt, sie kenne den Mann und es sei ihr Freund und sie fände es nicht gut, wie Peter über ihn rede. Das Gespräch eskaliert aus mir nicht erklärbaren Gründen. Ich fand die Diskussion nicht unbedingt schlimm, zwei Menschen vertreten ihre Standpunkte. Aber Militär-Peter packt wutentbrannt seine Sachen und verlässt ohne ein Wort die Herberge. Ich bin geschockt, aber Lehrer-Peter erzählt mir, dass Militär-Peter einfach keine Kritik und vor allem nicht von Frauen vertragen kann. Ich kann diesen Abgang nicht verstehen, aber finde mich mit seiner Entscheidung ab.
Ich rufe meinen Freund zu Hause an, da das WLAN in der Kirche noch nicht wirklich installiert ist. Er freut sich tierisch und ich habe Tränen in den Augen. Das erste Mal seit meiner Abreise höre ich seine Stimme. Er hat gute Neuigkeiten, denn er ist für einen Qualifizierungslehrgang aufgenommen worden. Und auch ich erzähle von der Leichtigkeit, die ich heute gewonnen habe. Nach dem Telefonat helfe ich der jungen Hospitalera aus Ungarn mit den Einkäufen für den Abend (Brot und Kekse). Ich lerne weitere wundervolle Menschen kennen, die noch sehr wichtig für mich werden, als wir um den Ofen herum sitzen. Die Amerikanerin Ellen aus Seattle (51 Jahre), die sich beruflich und privat umorientieren will, arbeitet aktuell für Microsoft. Sie möchte sich aber einfach mal wieder einnorden und beruflich eher in eine spirituelle Richtung gehen. Ich lerne Antonio kennen (Mitte 30), ein italienischer Radiomoderator aus Bergamo. Er unterhält die ganze Truppe. Lebensfreude pur. Weiterhin ist ein Spanier da, der aus der Nähe von Santiago kommt. Er läuft also nach Hause. Nun ja, er hat ein Fahrrad dabei, aber das schiebt er meistens, weil er sich einfach gerne mit den Pilgern unterhält. Ein witziger Kerl. Es gesellen sich zwei alte Damen aus Norwegen zu uns. Sie pilgern langsam und teilweise mit dem Bus. Ich bin beeindruckt. Und als ich von meinen Knieschmerzen erzähle, gibt mir eine der Damen eine Creme. Ich schmiere meine Knie damit ein und ich weiß nicht wirklich, ob sie heiß oder kalt werden, aber irgendwas passiert. Als vorletzter kommt Phillipe, ein alter Mann, der aus Nordfrankreich gepilgert kommt. Er hat einen Wagen, auf dem sein Rucksack festgeschnallt ist, den er mit der Hüfte zieht. Er spricht etwas deutsch und verkörpert die totale Herzlichkeit.
Wir gehen alle zusammen in die Pilgermesse (außer der Italiener, der kochen muss). Obwohl ich kein Wort verstehe, fühle ich mich berührt und nehme den Pilgersegen gerne an. Als Letzter stößt ein Baske zu uns, und ich sitze während dem Essen zwischen dem Basken und Patrizia, die Katalanin ist. Ich erfahre viel über die Konflikte von Basken, Katalanen und Spaniern. Der Abend ist so harmonisch. Nach dem Essen gehen wir in den Chorstuhl der prunkvollen Kirche und zünden eine Kerze an. Die Kerze wird von Pilger zu Pilger gereicht und jeder erzählt von den Beweggründen seiner Pilgerreise. Es ist hochemotional und ich erzähle zutiefst berührt und ehrlich, dass ich mich selbst nicht akzeptiere und mich finden und lieben lernen möchte. Man wird nicht verurteilt auf dem Weg, das ist das Schöne und deswegen kann man sein, wer man ist. Wir lesen nochmals den Pilgersegen, der auf Deutsch folgendermaßen heißt:
Herr Jesu Christo, der Du Deinen Diener Abraham aus der Stadt Ur in Caldea gerufen und ihn auf allen seinen Wanderungen beschützt hast und der du das Volk der Hebräer durch die Wüste geführt hast, Dich bitten wir, dass Du diese Deine Kinder segnen möchtest, die aus Liebe zu Dir auf ihrer Pilgerschaft nach Compostela hier die Straßen und Plätze von Granon durchqueren. Sei Du für diese Pilger: Begleiter auf ihrem Marsch, ein sicherer Führer an allen Scheidewegen, sei ihnen Herberge auf dem Weg, spende ihnen Schatten in der Hitze, und Licht in der Dunkelheit, Trost in ihrer Mutlosigkeit, Beständigkeit in ihren Vorhaben, Vertrauen und Gegenwart bei ihren Zweifeln. Damit sie unter Deiner Führung am Ziel ihres Weges gestärkt ankommen und der Gnade und Tugenden bereichert, aber unverletzt wieder nach Hause zurückkehren können, voll des Heils und der Glückseligkeit. Geht im Namen von Christus, der der Weg ist, und betet für uns in Compostela.
In unserer Schweigeminute sind alle sehr emotional. Aber wir freuen uns alle über das verbindende Erlebnis. Danach legen sich alle nach und nach schlafen. Die dünne Matratze auf dem Holzboden ist nicht wirklich bequem und nachts wurde es immer kälter, so dass ich eher schlecht geschlafen habe. Aber der Abend war es wert.
Villafranca montes de oca – 04.04.2014
Am nächsten Morgen zaubern die Hospitaleras ein Frühstück für alle. Die junge Ungarin nimmt mich zur Seite und sagt mir, dass sie ihren Camino aus denselben Gründen gelaufen ist wie ich. Sie sagt, Gott habe ihr geholfen und ich solle Vertrauen haben. Da ich nicht sehr religiös bin, finde ich ihren Zuspruch nett, aber habe nicht wirklich das Gefühl, dass diese Aussage mir helfen wird. Wie sehr man sich täuschen kann, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Wir laufen gut gelaunt los und das einzige Gesprächsthema ist Militär-Peter. Ich beschäftige mich nur mit ihm und überlege, was mich an ihm stört. Er hat zu viele Probleme. Probleme, die er nicht selbst lösen kann. Und er läuft vor seinen Problemen davon, deswegen läuft er den Camino zum achten Mal. Er hilft vielen anderen Pilgern, um seine Probleme und sein wahres Ich zu verdrängen. Wir treffen ihn im nächsten Dorf, wo er anscheinend auf einem Spielplatz übernachtet hat. Er scheint verwirrt, redet auch relativ wirres Zeug, dass seine Nacht so schlimm gewesen wäre. Er läuft anschließend ein Stück mit uns und ich erzähle ihm von meinen Gedanken. Was macht Militär-Peter? Er beginnt zu Weinen und zieht das Tempo an und rennt vor mir davon. Schlimm genug, dass ich (eine 24 Jährige) ihm seine Probleme aufzeigen muss. Er rennt an Cornwall-Peter mit einem hässlichen Kommentar vorbei. Adrian und Cornwall-Peter sind nicht unbedingt scharf darauf, Militär-Peter wieder zu sehen. Aber mir geht das ganze Thema nicht aus dem Kopf. Es ist zwar mein Weg, aber vielleicht kann man ja jemand anderem helfen.
Meine Knieschmerzen sind nach der Behandlung mit der Creme der Norwegerin fast verschwunden und es läuft sich herrlich. Ich denke außerdem über die Menschlichkeit nach, die ich im Leben und auf dem Camino empfangen habe. Und über die Liebe, die ich geben und hoffentlich auch empfangen kann. Und ich bin einfach dankbar und glücklich über alles und weine Freudentränen. Auf die letzten km kommt ein schrecklicher Wind auf gegen den wir anlaufen müssen. Wir albern rum, man müsse laufen wie Superman. Es raubt Kräfte und wir sind froh im Hotel Villafranca mit Herberge angekommen zu sein. Militär-Peter ist nicht dort, was sich positiv auf die Laune aller auswirkt. Ellen treffen wir dort wieder, was mich wirklich freut. Wir leeren ein paar Flaschen Wein zusammen und gehen schick in dem Restaurant des drei Sterne Hotels essen. Es gibt Spaghetti, einen Burger und Milchreis. Der Abend ist einfach das, was man als gute Zeit betiteln kann. Um ca. 22 Uhr gehen wir dann ins Bett. Die Nacht ist trotz schöner Unterkunft unruhig. Ein Amerikaner, der unter Peter und neben Adrian (unten) und mir (oben im Stockbett) liegt, schnarcht so laut, dass wir alle genervte Geräusche von uns geben… Irgendwann höre ich etwas klappern, kümmere mich aber nicht mehr darum.
Atapuerca – 05.04.2014
Am nächsten Morgen erfahre ich, dass Cornwall-Peter seine Brille nach dem Schnarcher geworfen hat. Haha, ich muss so laut lachen, das es weh tut. Als wir aus dem Garten des Hotels gelaufen kommen, kreuzt Militär-Peter unseren Weg. Er beachtet uns nicht. Ich wünsche ihm einen guten Morgen, aber bekomme kaum eine Antwort. Und so laufen wir hinter und voreinander her und ich werde so langsam wütend. Wütend, dass er sich so negativ auf meine Gedanken und Laune auswirkt. Das sollte wirklich MEIN Weg sein. Und so übernehme ich an diesem Tag die Führung, laufe vorne weg, voller Kraft und Energie und habe ein Gefühl, als wenn ich auf meine Mitpilger Cornwall-Peter und Adrian aufpassen muss und für alle stark sein muss. Ich übernehme das erste Mal eine Führungsrolle.
Der lange Weg zum nächsten Dorf (alias meinem Frühstück) ist ca. 13 km lang und ein Fall für meinen Notfall Power Riegel. Wir laufen durch den Wald, wo es extrem matschig ist. Auf Militär-Peter mache ich keinen Schritt zu, denn ich habe es versucht. Er muss sich ja auch helfen lassen und das will er scheinbar nicht. Der Weg nach Atapuerca ist nicht sonderlich weit und somit sind wir bereits mittags dort. Ich fühle mich super, möchte aber meine Gruppe nicht verlassen und bleibe somit mit Adrian und Cornwall-Peter in einer Bungalow ähnlichen Herberge. Militär-Peter kreuzt nochmal unseren Weg und entschuldigt sich für sein Benehmen. Ich umarme ihn, wobei er erstmal von mir zurück zuckt, es dann aber doch zulässt. Armer Kerl. Er bleibt in einem anderen Dorf und wir haben einen weiteren ruhigen, harmonischen restlichen Tag.
In dem kleinen Dorfladen trinken wir viel Kaffee und Cornwall-Peter und ich beobachten Antonio, den Italiener aus Granon, wie er mit zwei Pilgerfreunden für ein selbstgekochtes Abendessen einkauft… Italiener beim Einkaufen zu beobachten hat einen unglaublich hohen Unterhaltungsfaktor. Antonio: “Ah, I forgot something! Il formaggio! Queso! The cheese! No dinner without cheese!” Den langen freien Nachmittag vergammeln wir dann in unseren Betten. Mein Ausschlag bzw. Hitzeblasen werden immer schlimmer. Und trotz dieser Schönheitsmakel fühle ich mich geliebt und einfach gut. Das Pilgermenü in Atapuerca war das leckerste überhaupt. Nudeln in Öl mit gebratenem Gemüse, danach Thai Hühnchen mit Reis und frische Erdbeeren für 12 €. Da Peter, Adrian und ich zu dritt ein 6-Bett-Zimmer belegen, hat jeder das untere der Stockbetten bezogen und wir kriegen alle eine große Mütze voll ruhigen Schlaf. Der schnarchende Amerikaner ist in derselben Herberge, aber im Zimmer gegenüber und zwei Türen und ein Gang teilen uns voneinander. Wir schlafen tief und fest.
Burgos – 06.04.2014
Der Morgen kommt viel zu schnell. Keiner von uns dreien wollte aufstehen. Und dennoch raffen wir uns wie jeden Morgen auf, um unsere Sachen in einen Rucksack zu packen und weiter westwärts zu laufen. Wir erleben auf unserem Weg Richtung Burgos einen wunderschönen Sonnenaufgang inmitten einer Schafherde. Die zweite Hälfte des Weges besteht aus asphaltierten Straßen und der Weg führt kilometerlang durch das Industriegebiet von Burgos. Diese Lauferei auf Asphalt ist eine schlimme Belastung und wir sind heilfroh an der modernen städtischen Herberge anzukommen.
Nach und nach trudeln bekannte Gesichter ein: Militär-Peter, Ellen, ein älterer Spanier, den ich seit ein paar Tagen immer wieder sehe und der mich immer auf Spanisch voll blubbert, obwohl er weiß, dass ich kein Wort verstehe, Antonio und sein Pilger-Freund. Ich schlafe mal wieder oben im Stockbett, aber das ist ja nicht schlimm. Schlimm ist mein Gesicht. Ich bin aufgequollen, rot und habe überall offene Wunden auf Nase und Backen. Kurzzeitig habe ich dort ein Tief und möchte nach Hause. Burgos hat einen Flughafen, was verlockend ist. Aber ich raffe mich auf und besichtige mit den anderen Burgos, insbesondere die schönste Kathedrale, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe.
In der Kathedrale fühle ich mich zum ersten Mal als richtige Pilgerin, ehrfürchtig vor der Baukunst und den Gemälden. Wie lange das gedauert haben muss, so etwas zu erschaffen. Wieviel Durchhaltevermögen diejenigen hatten, die dieses Bauwerk realisiert haben. Ich bedanke mich bei Gott für meine bisherigen Erlebnisse und die Menschen, die ich kennen lernen durfte. Das Wetter ist perfekt und wir genießen die Zeit zusammen. On top bekommen wir hier das schlechteste und teuerste Pilgermenü der gesamten Reise. Aufgetaute, kalte Paella, in Fett ertränktes Lamm mit in Fett schwimmenden Pommes und Milchreis mit Zimt. Die Bardame des Restaurants, war Bardame, Kellnerin und Köchin in einem… Das sagt ja alles. In der Herberge laufe ich Antonio über den Weg, der mich auf mein Gesicht anspricht. Ich sage, ich bin ratlos, was es ist. Er sagt mit seinem tollen Gute-Laune-Italiener-Akzent: „It’s the sun!“ Ich schwöre mir, ab morgen also Sonnencreme zu schmieren und Cap zu tragen. Ich bin froh über den Schlaf, den ich wieder bekomme und freue mich auf den weiteren Verlauf der Reise. Militär-Peter sagte mal, dass sich Dinge ab Burgos verändern. Zum Einen würde Militär-Peter einen weiteren Tag in Burgos bleiben. D.h. wir werden ihm nicht mehr begegnen. Was mich sonst erwartet, weiß ich nicht.
Teil 2: der Kopf
Gerade als ich beginne mich gut zu fühlen, beginnt die Arbeit für den Kopf. Die Weite der Getreidefelder, die hügellose Landschaft und die endlos geraden Wege führen dazu, dass man sich mit sich selbst beschäftigt. Und man nimmt viel mehr Details wahr: Eidechsen, Schlangen, Frösche,… Alles, was man sonst möglicherweise übersieht, ist hier wie ein Schrei in der Ödnis der Landschaft. Ab jetzt beginne ich langsam zu mir selbst zu finden.
Hontanas – 07.04.2014
Boadillo del camino – 08.04.2014
Um 7 Uhr stehen wir auf, frühstücken und laufen los. Alle 8-10 km machen wir eine Pause, weil wir auf die Italiener treffen. O-Ton Antonio: „The breaks are the camino! Espresso and bocadillo!“ Er ist unterhaltsam und wir genießen die Pausen, den Kaffee, das Bier, das Essen, das Wetter…Zu Beginn erwartet uns ein steiler Anstieg und ich habe so viel Kraft, dass ich den Berg fast hochsprinte. Es ist ein Rausch. Das ist es doch, um was es geht. Die guten Zeiten genießen, leben! Um die Mittagszeit wird es brütend heiß und die km in der schattenlosen Mesetas werden hart, auch weil es wahnsinnig viele Fliegen gibt. Adrian und ich koppeln uns im Stechschritt vom Rest ab, wir wollen einfach nur ankommen. Eine Schafherde kommt uns entgegen, vorneweg läuft ein Esel und der Schäfer und zwei Hunde passen auf. Wie süß! In Boadilla kommen wir in eine Unterkunft mit wunderschön angelegtem Garten. Nach meiner Dusche betrachte ich mich im Sport BH im Spiegel und da genieße ich meinen eigenen Anblick. So was wie sixpacks kommen wieder zum Vorschein. Ich fühle mich trotz entstelltem Gesicht sexy. Ich lege mich mit einem Bier in die Sonne, was Schmunzeln und Neid bei Antonio und seinem Freund Felipe (ja, jetzt weiß ich endlich den Namen und dass er Brasilianer ist!) hervorruft. Mein Gesicht wird langsam besser, die Schwellung nimmt ab. Man könnte sogar meinen, die zwei Jungs sind in Flirtlaune. Und hey, warum nicht, auch das trägt zur guten Laune bei. Es gibt ein gemeinsames Abendessen und ich sitze neben einer Australierin und Ellen. Als das Thema Job bei mir aufkommt, was ja noch ein großes Problem ist für mich, werde ich ganz kleinlaut. Beide sagen mir, es ist egal, was ich mache, aber ich muss aggressiv sein, muss Willen zeigen und dann kann ich alles bekommen. Ich muss in der „Ich-Form“ statt in der „Wir-Form“ reden (Wir Frauen, Wir Deutschen, Wir …), um mich als Individuum hervorzuheben. Den Rat werde ich mir zu Herzen nehmen und hoffentlich erfolgreich zu Hause umsetzen. Die Nacht war wieder mal sehr kalt und ich bekomme wenig Schlaf, aber immerhin gibt es keine Schnarcher im Raum.
Carrion de los condes – 09.04.2014
Der nächste Morgen startet damit, dass „meine“ Gruppe (Ellen, Adrian und Cornwall-Peter) ohne Frühstück los wollen. Peter hat sein Handy in Logrono verloren und er hofft in der nächsten Stadt ein Neues erwerben zu können. Die Herberge bietet Frühstück an und ich laufe ungern ohne Frühstück. Also beschließe ich mit Antonio, Felipe und dem Italiener Paar zu laufen und die anderen unterwegs zu treffen. Es ist eine herrliche Zeit. Federica und Christien (das Paar) verstehe ich zwar nicht, aber ich mag beide. Sie sind so nett und typisch italienisch voller guter Laune. Ich erfahre, dass Federica Triathletin ist und das ganze aus sportlichen Gründen macht. Und sie ist Vegetarierin, aber mag keine Erdbeeren. Ihr Freund möchte ihr wohl einfach gern die Stirn bieten, aber er kämpft mit seinen Waden.
Die Laufzeit ist nun nicht mehr besinnlich und ruhig, sondern voller Leben. Antonio redet gern und viel, singt aber genauso viel und auch mit Felipe, der wenigstens gut Englisch kann, unterhalte ich mich viel. Auch er bestärkt mich bereits am ersten Tag, ich selbst zu sein. In jedem Ort wird Pause gemacht, um Kaffee zu trinken. Ich weiß nicht warum, aber ein kleiner Knoten platzt an diesem Tag in meinem Hals und ich singe zum ersten Mal seit der Abiturfeier vor meinen Mitpilgern. Es klingt unglaublich schrecklich, aber hier ist es vor allem der Mut und das Erlebnis das zählt. Denn das bin ich: Ich mag Musik, ich singe gerne. Und ich denke mir, Militär-Peter hat Recht: Dinge verändern sich nach Burgos. Und das vor allem durch die viele positive Energie der Menschen, die ich nun treffe.
Wir steuern die Herberge Santa Maria an, die von Nonnen geführt wird. Eine schöne, einfache Herberge mit Küche, wo die Italiener sich wieder austoben möchten. An diesem Tag lerne ich auch den Koreaner Youn kennen. Gesehen habe ich ihn bereits in Burgos, aber noch nicht weitergehenden Kontakt gehabt. Er spricht schlecht Englisch und somit kann ich nach der ganzen Reise nicht sagen, warum er da war. Ich weiß nur, dass er für so viele lustige Momente gesorgt hat. Denn ab diesem Zeitpunkt begegnen wir ihm jeden Tag und er ist immer vor uns in den Herbergen. Ich weiß, dass auch er beim Militär war. Wen treffe ich natürlich auch in der Herberge? Der ältere Spanier, der mir wieder von seinen Fuß und Stiefelproblemen auf Spanisch erzählt. Ich ziehe nach einer Dusche alleine in die Stadt los und besorge mir etwas in der Apotheke für die mittlerweile abheilenden Wunden im Gesicht. Ich hole mir Geld am Bankautomaten. Und wie ich so durch Carrion schlendere, brüllt auf einmal jemand: Lisa, come here! Und da sehe ich alle meine Lieben bei einem Bier auf der Plaza sitzen. Ich geselle mich dazu und bekomme ein Bier, das ich aufgrund der Hitze schnell leere. Ich lerne weitere Menschen kennen (etwas anderes macht man ja auf dem Camino nicht): Pascal aus Luxemburg und Pauline aus Holland. Pauline ist erst gestartet. Sie erzählt mir von Konflikten mit Freunden, und wie sie sich zu Hause verstellt. Ich versuche, soweit ich mir selbst schon helfen konnte, ihr Ratschläge zu geben. Ich kann zu diesem Zeitpunkt nicht betiteln, was mit mir schon alles passiert ist, was sich geändert hat. Erst im Nachhinein betrachtet, war dies der Anfang meines neuen Ichs. Die Italiener, Felipe und ich gehen einkaufen für das Abendessen. Letztendlich wird Pasta Amatriciana für 12 Personen an diesem Abend gekocht, inkl. Salat, Wein und Bruschetta. Pro Nase kommt dieses Menü auf 3 €. Wir bereden auch die Etappe des nächsten Tages, die es in sich hat. Wir stehen vor der längsten Etappe ohne Dorf dazwischen. Zum nächsten Ort sind es morgen früh 17 km. Die Strecke ist schattenlos und führt einfach nur geradeaus. Wir beschließen deshalb früh aufzubrechen, um nicht in die Mittagssonne zu kommen.
Terradillos de los templarios – 10.04.2014
Wir brechen um 7 Uhr auf und nach Kaffee und Gebäck machen wir uns auf den Weg. Ich halte mich an Felipe, mit dem ich mich erstaunlich gut verstehe. Er ist einer der wenigen Menschen, die man als gleiche Wellenlänge und irgendwie Seelenverwandten bezeichnet. Er weiß, was ich in bestimmten Momenten brauche, wie er mich motivieren kann. So reden wir viel während der 17 km, die für mich wie im Flug vorbei sind. Er gibt mir einfach das Gefühl, normal zu sein, auch wenn ich oft nicht der Überzeugung bin. Man lernt Menschen einzuschätzen und zu vertrauen, und Felipe ist einer dieser Menschen. Ich komme zu der Überzeugung, dass man zu sich und seinen Neigungen stehen muss. Alles andere macht nicht glücklich.
An der Bar angekommen bietet sich mir ein witziges Bild. Alle anderen, v.a. Cornwall-Peter sind fix und fertig von dem Gewaltmarsch in der Hitze, die Stiefel sind alle ausgezogen. Ich laufe mittlerweile auch mit kurzen Shorts und T-shirt, aber stets mit Cap und Sonnencreme. Die Italiener mit ihren Walkingstöcken sind natürlich in einem Affenzahn vor uns her gelaufen. Jeder in seinem Tempo. Endlich erfahre ich auch, was ich oft auf Steinen und Mauern geschrieben sehe: A Passo Lento. Geh Langsam. Trifft ja auf viele Italiener nicht zu, deswegen bremsen die sich vermutlich selbst. Auch der restliche Weg vergeht wie im Flug. In Terradillos teilen wir uns auf. Felipe und ich bleiben in einer schönen Herberge mit großem Garten. Die Italiener laufen weiter. Youn und die anderen sind in einer älteren Herberge im Ort. In unserer Herberge bleiben wir in einem 8-Bett-Zimmer, in dem außer uns beiden nur ein anderer Pilger ist. Der ältere Spanier. Da Felipe sich auf Spanisch unterhalten kann, lasse ich nach dem Namen des Herrn fragen: Alfonso. Endlich hat der Mann einen Namen. Und wieder erzählt er mir auf Spanisch von Stiefelproblemen. Felipe versucht zu übersetzen, aber Alfonso spricht schnell und undeutlich. Ich erfahre, dass er seinen Rucksack ab jetzt vorschickt und nur das nötigste zum Wandern mitnimmt, um seinen Rücken zu entlasten. Der restliche Tag ist unspektakulär: Duschen, Gammeln, etwas essen und schlafen. Ich finde mich total sexy, die Hosen brauchen mittlerweile Gürtel und auch meine Nase wird deutlich besser. Ich fühle mich toll.
El Burgo Ranero – 11.04.2014
Heute starten wir um 7.30 Uhr und holen die Italiener und auch die anderen unterwegs ein. Wir sind flott unterwegs, der Kopf ist leer und es fühlt sich super an. Wie ein Neustart. Unterwegs denke ich daran, was andere Leute über mich denken und dass sie möglicherweise über mich reden. Und auf einmal kommt mir der Gedanke: „Hey, was solls?!“ Wir laufen eine Strecke, die sich über Stunden nicht ändert. Ein Fußweg mit Schotter, links Bäume in Form einer Allee, rechts die Straße. So geht es stundenlang geradeaus und ich denke mir: „Ich bin so viele km von zu Hause weg und über mich wird geredet und getratscht.“ Und an Stelle mir Gedanken und Sorgen darüber zu machen, denke ich: „Wow, was für ein Erfolg! Sollen sie doch reden! Das kann Neid, Bewunderung oder sonst was sein, aber keine Gleichgültigkeit!“
Und als ich so die schönen Wolken am Himmel betrachte, und mir weniger Sorgen mache, macht es auf einmal KLICK. Mitten in dieser eintönigen Landschaft sagt meine innere positive Stimme: „Hier bin ich. Das bist du. Und du bist positiv!“ Ich suche in meinem inneren nach der zynisch, sarkastischen Stimme, die alles und jeden innerlich negativ kommentiert hat. Aber ich kann sie nicht finden. Und darüber freue ich mich tierisch. Mit One Republic „I Lived“ im Ohr, laufe ich schnell, beschwingt und ohne Ermüdungserscheinung in El Burgo Ranero ein. Die Jungs haben Probleme mitzuhalten. Wir kommen in einer Herberge an, die von zwei Freiwilligen aus den USA betreut werden, Trish und Stef. Cornwall-Peter hat uns wohl schon angekündigt, denn wir werden erwartet. Youn ist schon da und natürlich Alfonso, die üblichen Verdächtigen. Später kommen auch Ellen und Adrian. Wir gönnen uns wieder erst mal ein Bier und kaufen dann für das geplante Risotto ein. Eine Spanierin kocht Tortilla und wir haben wieder mal eine leckere, große Mahlzeit. Felipe hat sich zurückgezogen, der hat seine Salami einen Tag zu lang in der Hitze rumgetragen. Armer Kerl. Am Abend ergibt sich noch eine interessante Unterhaltung zwischen Stef und Ellen. Stef ist Yoga Lehrer und Ellen hat sich über ihre Reise auch Gedanken gemacht, sich von Microsoft zu lösen, um Yoga Kurse zu geben. Und somit ist auch diese Begegnung eine sonderhafte Fügung.
Acahueja – 12.04.2014
Ich bin voller Kraft und Energie am heutigen Tag und möchte einfach los. Das Laufen fällt mir leicht und ich laufe heute bei Ellen und Adrian, die ein ebenso schnelles Tempo anschlagen. Der angeschlagene Felipe bleibt bei Antonio, der heute genauso rumtrödelt. Nach 12 km kommen wir zu einer Bar, wo ich mir frisch gepressten O-saft gönne. Die Vitamine tun mir und meinem Körper einfach gut. Auf dem weiteren Weg spreche ich mit Ellen. Ich erzähle ihr von meinem besonderen Moment und ich danke ihr für ihre positive Energie, die sie ausstrahlt. Sie sagt mir, dass sie in mir eine riesengroße Energiereserve sieht, die nur darauf wartet, herauszubrechen. Dass sie mich sehr stark findet und ich dies auch langsam beginne, auszustrahlen. Dann sprechen wir darüber, wie wichtig gute Freunde sind und sie beginnt zu weinen. Aber vor Freude, weil sie ihre Freunde so schätzt. Ich bin gerührt, dass ich diesen emotionalen Moment wie auch schon in Granon mit ihr teilen darf.
Wir laufen weitere km und die Mittagshitze lässt uns schnell ermüden. Als wir in Acahueja ankommen, erwartet uns: Youn! Alfonso ist schon vorher gestoppt, ihn sehe ich leider nicht mehr. Wie mir zu Ohren kommt, habe ich auch Lehrer-Peter zum letzten Mal gesehen, denn er stoppt auch einen Ort früher. Antonio hat ein wenig Zeitdruck, denn sein Flieger ist in wenigen Tagen gebucht, und er nimmt den Bus nach Leon. Felipe trudelt immerhin ein wenig später bei uns ein. Die Hitze fordert Opfer und zerreißt unsere Gruppe. Schade, aber das ist der Camino. Nach einem Glas Sangria mit Ellen schreibe ich Tagebuch, sitze in der Sonne und lasse den Tag Revue passieren:
- Ich liebe mich und mein Leben.
- Ich liebe die Hobbys, die ich aufgrund von Studium aufgegeben habe. Irgendetwas muss ich mir im Laufe der Zeit zurückholen, wahrscheinlich das Reiten.
- Ich beginne mich mit der Natur zu verbinden, die mir gut tut. Das heißt für mich raus aus der Stadt ziehen, die mich bedrückt und nervt.
- Ich liebe meinen Körper, dem ich in Zukunft mehr gutes tun möchte. Das heißt für mich mehr Sport, Radfahren
- Eventuell lerne ich eine weitere Sprache, italienisch ist so schön und ich kann mich „nur“ mit meinem Englisch durch die Welt schlagen. Das ist doch schade.
Das Menü, das wir in der einzigen Herberge im Ort bekommen, ist eines von der Sorte „sie waren stets bemüht“. Spaghetti, frittierter Fisch mit Kartoffelecken, Salat und Pudding. Danach sind wir ins Bett gekullert und mich überkommt ein melancholisches Gefühl. Wir sind kurz vor Leon, kurz vor dem letzten Drittel des Weges und ich frage mich, was mit der Zeit passiert ist. Ich hatte zwar wichtige Erkenntnisse bis hierhin, aber ich bin noch nicht bereit, den Weg zu beenden. Traurig, aber beseelt schlafe ich an diesem Abend ein.
Villar de Mazarife – 13.04.2014
Wir stehen um 6.30 Uhr auf und futtern das bereits am Abend für uns vorbereitete Frühstück. Wir brechen nach Leon auf, das lediglich 7 km entfernt ist. Dort kommen wir auch relativ zügig an und wir genießen das morgendliche Flair der Stadt am Palmsonntag. Auf dem großen Platz vor der Kathedrale genieße ich wie schon in Burgos eine gewisse Ehrfurcht. Und als wir dort unseren Kaffee schlürfen, erleben wir wieder so etwas wie ein Klassentreffen: Das neuseeländische Paar, das Paar aus Inzell, Youn… Hier strömen alle ein und auch von Antonio hören wir zumindest, dass er nur wenige Stunden vor uns aufgebrochen sei. Ich betrachte das Eingangsportal der Kathedrale. Ein wunderschönes Blumenfenster thront über den Türen. Wunderschön. Doch dann fallen mir die zwei hässlichen Wesen auf den Seiten der Blume auf. Ich frage mich, warum diese hässlichen Kreaturen an so einem schönen Kunstwerk angebracht sind. Und da trifft es mich zum zweiten Mal auf dem Weg. Gerade die Hässlichkeit der Gestalten und der Mut desjenigen, der diese genau dort angebracht hat, macht diese Blume erst so schön. Ohne es zu wissen, wird diese Blume nur deshalb so wahrgenommen, weil diese hässlichen Gestalten da sind. Und das ist Kunst. Es regt zum Denken an. Es ist nicht immer schön. Man diskutiert darüber. Und ich verstehe, was ich zu Hause machen muss. Meine Tätigkeit als Hobby Model habe ich an den Nagel gehängt, weil die Bilder immer gleich waren. Es war am Schluss nur noch ein Job. Und ich weiß jetzt, dass ich durchaus weiter als Hobby Model arbeiten sollte. Aber ich muss Kunst daraus machen. Zumindest für mich. Eventuell kann man die Bilder teilen, Menschen darüber diskutieren lassen, Gefallen und Nichtgefallen auslösen. Dann wird darüber geredet und das ist es doch, was ich möchte. Der Gedanke daran, mich selbst als Künstlerin zu verstehen, gefällt mir und nimmt in meinem Kopf Formen an.
Und auf einmal purzeln die Shooting Ideen und ich platze vor Kreativität, die ich vorher noch nie wahrgenommen habe. Hier in Leon, auf dem Platz vor der Kathedrale, gerät ein Stein ins Rollen. Ich möchte weiter laufen, und mich nun vom Weg inspirieren lassen. Wir verabschieden uns von Ellen, die den Tag in Leon verbringen möchte. Es ist schade, dass sie nicht mitkommt, aber das ist der Camino. Seit ein paar Tagen habe ich außerdem die Idee mir ein Tattoo stechen zu lassen. Mir geht der Name La Peregrina, die Pilgerin, nicht aus dem Kopf. Aber jetzt weiß ich, dass das der Name ist, unter dem ich meine neuen Projekte durchführen möchte. La Peregrina wurde in Leon geboren. Ich merke, wie mich die Natur, die Landschaften, die Leute und auch die Musik, die ich höre, inspirieren.
In Virgen del Camino steht eine der modernsten Kirchen des Weges. Hier strömen gerade die Menschen aus der Kirche und wir kommen mit einer Hospitalera ins Gespräch. Sie erzählt uns, dass der Künstler der Figuren der Kirche erst kürzlich gestorben sei. Ich bin berührt von diesen Geisterfiguren und mir kommt eine meiner ersten Bildideen.
Wir gehen weiter und ich habe weitere Ideen. An unserem Ziel kaufe ich mir ein kleines Buch, in dem ich alle aufschreibe, um keine zu vergessen. Wir treffen eine Gruppe Amerikaner (Lindsay, Christy, Cary und Ian), die an diesem Abend mit uns essen. Sie kommen aus Tennessee und sind das, was man als good company bezeichnet. Ich bin etwas überrumpelt von all meinen Ideen und schalte für den restlichen Abend ab.
Teil 3: die Seele
Im letzten Drittel baut man sein Selbstbewusstsein und seine Kraft neu auf und kräftigt, was man im vorherigen Abschnitt für sich entdeckt hat. Diese Zeit ist zum Genießen da und zum Realisieren, welch wundervolle Erfahrung man hat machen dürfen. Man lernt viele Dinge zu schätzen und Puzzle Teile fügen sich zu einem großen Ganzen zusammen. Und man findet noch etwas Wunderbares – seinen Glauben.
Astorga – 14.04.2014
Nun, da ich mich bewusst inspirieren lasse, achte ich genau auf die Natur und meine Umwelt. Wir steuern auf die Berge zu und ich freue mich jetzt schon auf Abwechslung in der Landschaft. Die 33 km laufen sich relativ leicht. Und ich stelle fest, dass Wasser aussieht, als wenn es sich freut, dass es fließen darf. Ich fühle mich, als wäre ich mit dem Wasser verbunden. Vielleicht sind Naturglaube und die Elementelehre etwas, mit dem ich mich identifizieren kann und daran glauben kann. Ich weiß es nicht, aber das fließende Wasser mag ich. Ich betrachte es gerne. Astorga liegt idyllisch, aber ich merke, dass meine Fußsohlen anfangen zu brennen. Ich bin froh, als wir in der Herberge ankommen, und auf wen treffen wir da? Antonio! Die Freude ist riesengroß und los geht es wieder zum Einkaufen. Denn es gibt wieder ein großes Mahl für 15 Leute. Ich darf diesmal die Tomatensoße kochen. Eine Herausforderung, aber mit Hilfe der Italiener kein Problem.
Ich sehe Maxime wieder, ein Franzose, der schon im Bus nach Saint Jean mit mir gefahren ist. Er ist auch eine Bekanntschaft, die auftaucht und wieder verschwindet. Heute unterhalte ich mich ein wenig mit ihm. Auch mit ihm verstehe ich mich von Anfang an super. Er baut sehr schnell vertrauen zu mir auf und erzählt mir, dass er zu Hause einen Freund hat. Er erinnert mich an eine Jugendliebe, die ich bei einem Austausch nach Frankreich kennen gelernt habe, Sebastien. Wir haben uns kennen gelernt, verknallt und dann musste ich abreisen. Wir hatten noch etwas Kontakt, der aber nach und nach abgebrochen ist. Ich werde traurig, als ich daran denke, aber lustigerweise kann ich mich nicht mehr an sein Aussehen erinnern. Nur an seine Halskette. Eine Triskele, ein für mich wichtiges Symbol. Diese trug er immer und ich erinnere mich genau. Und wieder fügt sich ein Puzzleteil. Wieso bleibt mir dieses Symbol im Kopf und nicht der Mann an sich? Deutet sich schon in jungem Alter an, was man später nicht aufhalten kann? Ich gehe an diesem Abend als letzte ins Bett, denn das Gespräch mit Maxime hat sich dann etwas gezogen. Voller Gedanken und Verwunderung schlafe ich ein.
Foncebaddon – 15.04.2014
Am nächsten Morgen sehen wir uns noch die Kathedrale und den Bischofspalast von Astorga an. Wir essen Churros zum Frühstück und starten in eine Etappe, die für mich eine der schönsten des Camino ist. Die Landschaft, die Blumen, die Berge, die sich nähern, Dornenbüsche, und ein Anstieg, der es in sich hat. Ich habe meine Energiereserve geknackt und fliege zu Musik den Berg hinauf. Ich überhole die Amerikaner, lasse Felipe hinter mir, den Schwaben Jürgen. Ich fühle den Berg und den Boden. Ich verbinde mich heute mit dem Element Erde. Ich weiß genau, wohin ich meine Füße setzen muss, um nicht zu stolpern. Foncebaddon ist ein winziges Dorf in den Bergen. Wir kommen dort in einer Unterkunft unter, die von Hippies und Yoga Gurus geleitet wird. Die Unterkunft ist zum Platzen voll, aber wir duschen warm und bekommen am Abend eine große Paella Pfanne vorgesetzt. Ich schmeiße eine Runde Bier für meine Freunde, zu der eine weitere Italienerin Cristina gestoßen ist.
Der Abend ist lustig und entspannt und wir sind voller Vorfreude vor dem nächsten Tag, an dem wir in den Morgenstunden bereits das Cruz de Ferro erreichen werden, wo jeder Pilger einen Stein von zu Hause ablegen kann. Der Stein stellt ein Zeichen für die Mühen des Pilgers da und die Sorgen und Mühen werden sprichwörtlich am Cruz de Ferro abgelegt. Für Antonio wird es das Ende der Reise sein, denn er muss zurückfliegen nach Italien.
Ponferrada – 16.04.2014
Die Etappe an diesem Tag toppt alle bisherigen. Der Weg zum Cruz de Ferro ist herrlich. Mystisch in dem Licht der aufgehenden Sonne. Ich fühle eine ganz starke Bindung zur Natur, den Pflanzen, der Erde und der Luft. So hoch in den Bergen verbinde ich mich mit dem Element Luft. Ich fühle etwas, was sich anfühlt wie eine starke Weiblichkeit und ich habe das Gefühl, das aus mir nun endgültig eine Frau geworden ist. Ich weine, weil mich diese Gefühle einfach überrollen. Somit ist der Weg zum Cruz de Ferro für mich einmalig und besonders. Als ich dort angekommen bin, ist der Zauber eigentlich vorbei. Aber die Stimmung und Emotionalität der anderen Pilger ist überwältigend. Ich nehme alles in mich auf und lege meinen Stein ab. Die Stimmung kann man vermutlich besser anhand der Bilder verstehen. Zauberhaft. Antonio bleibt eine Weile. Wir laufen weiter durch die Berge und Hügel, auf denen in der Ferne noch Schnee liegt. Das Wetter ist herrlich und der Ausblick genial. Der Abstieg ist wie ein Traum. Ein Dornröschental, unglaublich romantische Dörfer. Eigentlich wäre jede Beschreibung nicht schön genug, also lasse ich es. Wir halten im schönen Molaniseca, wo wir am kühlen Fluss Pause machen und die Füße ins kalte Wasser baumeln lassen. Nach diesem Traum wird es leider wieder urban, als wir nach Ponferrada laufen. Ich habe heute beim Abstieg eine wichtige Erkenntnis bekommen. Gute Freunde sind wie die fest im Boden verankerten Steine. Sie geben dir Halt beim Abstieg, aber man muss sie aus dem Haufen loser Steine herausfiltern können. Man braucht nicht viele feste Steine zum Absteigen, aber immer einen in Schrittweite! Antonio sagt heute: „This is my Camino, YOU are my Camino my friends. Being here with you is my own personal Santiago.“ Und damit hat er so Recht.
Villafranca del bierzo – 17.04.2014
Wir verabschieden Antonio am Morgen und laufen an der Ritterburg von Ponferrada vorbei aus der Stadt heraus. Bei schönstem Wetter laufen wir durch die hügelige Landschaft. Wir kommen wieder in eine Weinregion. Es läuft sich super und nach 24 km kommen wir im malerischen Villafranca an. Ich beschließe mich hier von den anderen zu trennen. Der Weg teilt sich nun auf in den Camino Duro, der mit 500 Höhenmeter über 11 km über einen Berg führt und den Weg ohne Höhenunterschied an der Straße entlang. Da die anderen Strecke machen wollen, entscheiden sie sich für den Weg an der Straße. Ich möchte aber über den Berg und diesen möchte ich genießen, weshalb ich ihn erst am nächsten Morgen laufen möchte. Wir trinken noch ein Bier zusammen und verabschieden uns dann.
Ich bin nun ganz allein und dieses Gefühl ist schrecklich. Ich suche mir eine Herberge und ich bin froh, dass ich so zeitig abgekommen bin, denn Villafranca ist voller Pilger und die Herbergen sind am Abend komplett voll. In der Herberge, die eher einer Bruchbude ähnelt, sind eindeutig zu viele Deutsche, Österreicher und Schweizer. Jürgen, der Schwabe Mitte 40, ist auch hier und ich beschließe, mich ein wenig an ihn zu hängen. Mit ihm und einem Dänen auch Mitte 40 (glaube ich) war ich Tapas essen. Ich bin geschockt vom Verlauf des Abends. Jürgen ist das, was man einen Mann in seiner Midlife crisis nennt. Zumindest wie ich es mir vorstelle. Er benimmt sich unglaublich unreif und versucht vermutlich cool zu sein, ist überall und nirgendwo, um nichts zu verpassen. Ich meine, ich selbst bin ja erst erwachsen geworden heute Morgen. Und irgendwie ist er für mich keine gute Gesellschaft. Wir treffen Christiane mit ihrem Sohn Anton, die wir seit Leon täglich laufen sehen. Anton ist 9 Jahre und ein Energiebündel. Er liebt es neue Kontakte zu knüpfen. Die beiden leben in Barcelona, kommen ursprünglich aus Mühlheim. Ich hatte ja zu Kindern noch nie einen guten Draht, aber mit Anton komme ich gut klar. Er erzählt mir so viel, dass ich selbst kaum zu Wort komme. Ich muss an den Sohn meines Freundes denken, der ebenfalls 9 Jahre alt ist. Und ich denke, irgendwie haben meine gewonnene Weiblichkeit und mein Erwachsenwerden dazu beigetragen, dass dieses Kind Vertrauen zu mir hat. Ich hoffe, es wird mir auch zu Hause helfen, mit dem Junior gut klar zu kommen. Dann kommt ein weiterer Deutscher dazu. Thomas. Vermutlich auch Mitte 40. Der fängt gleich ganz typisch deutsch mit den tiefsinnigen und analytischen Fragen an und geht mir damit ziemlich auf den Wecker. Vor allem analysiert er alle Antworten, die er bekommt. Mach dich locker. Genieße la dolce vita. Und ich vermisse meine alte Gruppe. Ich gehe zurück in die gammelige Herberge, wo ich zum oberen Bett kaum Platz habe. Ich kann mich kaum umdrehen. Ich liege direkt mit dem Gesicht zur Tür, die ins Freie führt und nicht wirklich vorhanden ist. Die Nacht wird also wieder kalt. Und ich fasse den Entschluss, meine alte Gruppe irgendwie und irgendwann einzuholen.
O Cebreiro – 18.04.2014 (Karfreitag)
Ich habe so schlecht geschlafen, dass ich froh bin alleine aufbrechen zu können. Nach einem kurzen Frühstück laufe ich los in Richtung Camino Duro, dessen Aufstieg es in sich hat. Es geht steil nach oben und ich brauche eine gute Stunde, um oben anzukommen. Aber der Sonnenaufgang und die Aussicht ist es wert. Immerhin bin ich hier ganz allein. Nach dem Abstieg laufe ich auch an der Straße entlang bis es am Schluss noch mal nach oben geht. Mir geht es so gut, dass ich auch diesen Anstieg bis nach oben auf mich nehme und komme bereits um 14 Uhr in O Cebreiro an. Da es Karfreitag ist, ist der Ort voller spanischer Touristen und spanischer Pilger. Ich treffe dort wieder auf Maxime und freue mich riesig, ihn zu sehen. Er wäscht gerade seine Sachen und ich frage, wie er so schnell da sein konnte. Er zeigt mir seine Arme, die von oben bis unten voller Bisse sind. Die Bettwanzen Bisse habe er wohl aus der letzten Albergue, in der auch ich war und er habe von vier anderen Leuten mit Bissen gehört. Ich freue mich insgeheim, dass ich nichts abbekommen habe. Ich gehe mit Maxime später am Abend zum Essen. Das Menü ist mäßig, aber ich freue mich über seine Gesellschaft. Ansonsten kann man nur sagen, dass ich heute alleine zu schnell gelaufen bin. Ich muss mich mehr bremsen. Mir wird klar, dass ich meine Gruppe nicht nur vermisse, sondern brauche. Nicht, weil die Italiener mich antreiben und zu schnell sind. Nein, weil sie mich bremsen und beruhigen. Ich gehe bereits um 19 Uhr schlafen, weil mir einfach langweilig ist und ich hier auch keinen Anschluss suche oder möchte. Das gestaltet sich allerdings schwierig, denn es ist hell, im Raum sind 50 Leute, es ist unruhig und stickig.
Sarria – 19.04.2014
Der Worst Case ist eingetreten. Ich wache um 5:20 Uhr auf und fühle mich unwohl. Ich fasse an meinen Hals und fühle überall Bisse. An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Ich packe sofort alle meine Sachen und verlasse fluchtartig den Schlafsaal. Draußen versuche ich mich zu beruhigen und mache mich im Bad so gut es geht fertig. Der ganze Hals ist voller roter Punkte. Das sind definitiv Bettwanzen Bisse. Wie schrecklich. Und gestern habe ich mich noch gefreut. Da um 6 Uhr noch keine Bar in Spanien geöffnet hat, marschiere ich im Dunklen los. Das Gute ist, dass auch andere Bekloppte gerne nachts mit Taschenlampe laufen, und ich schließe mich den Taschenlampenpilgern an. Die laufen mir zwar zu langsam, denn ich bin aufgebracht und wütend über die Bisse und möchte mich auspowern. Aber ich bleibe bei ihnen bis es hell genug ist. Und dann bin ich weg. Positiv: Ich erlebe wieder einen wunderschönen Sonnenaufgang. Es geht nochmal einige Meter bergauf und ich gönne mir bei der nächsten Möglichkeit ein Frühstück. Ich laufe und laufe und wie schon gestern bin ich alleine einfach zu schnell. An der zweiten Bar, die ich sehe, laufe ich in meinem Eiltempo vorbei und grüße schnell einen Pilger, der draußen im Freien sitzt. Ich überlege kurz anzuhalten und kehre wieder um. Antonio sagte, die Pausen sind der Weg und wer weiß, wann es die nächste Einkehrmöglichkeit gibt. Innen sitzen zwei Österreicher und der Mann von draußen gesellt sich zu uns.
Der Mann von draußen ist Boris, ein in München lebender Österreicher. Wir trinken einen Kaffee und in meinem Kopf formt sich weiterhin die Idee, meine Gruppe wieder einzuholen, die ca. 10 km Vorsprung haben müssten. Adrian und Felipe teilen mir per WIFI mit, dass sie Sarria anpeilen. Da ich ja früh aufgebrochen bin, kann ich das heute durchaus schaffen, aber die 42 km muss man erstmal laufen. Ich laufe zusammen mit Boris weiter. Wir unterhalten uns über gesundheitliche Pilgerprobleme und alles Mögliche. Es ist locker und ungezwungen, er ist ein Mitpilger und Freund geworden und das in kürzester Zeit. Natürlich kommt das Thema mal wieder auf meinen nicht vorhandenen Job… Und ich bekomme ein paar gute Tipps von ihm. Es stellt sich heraus, dass er selbst Geschäftsführer namhafter Unternehmen im Tourismusbereich ist. Mir klappt die Kinnlade nach unten und ich kann erstmal gar nichts mehr sagen. Das ist so ein „Der Mann ist mir total überlegen“ Gefühl. In der Regel habe ich das allerdings nur bei männlichen Kollegen im Anzug. Dann fange ich allerdings an zu überlegen: Er ist ein ganz normaler, netter Mensch in Wanderklamotten. Und bisher konnten wir ja auch gut reden. Und wieder wird mir klar: Diesem Menschen bin ich nicht zufällig begegnet. Es war der ultimative Test, ob ich ich selbst bleiben kann und mich nicht sofort unterbuttern lasse. Und dann geht es auf einmal wieder. Ich bin froh über das eben Gelernte. Und über all diese sonderbaren Dinge habe ich vergessen, wie weit ich eigentlich gelaufen bin. Wir kommen zusammen um ca. 16 Uhr in Sarria an und ich mache mich auf die Suche nach Felipe und Adrian. Wir verabschieden uns und ich freue mich, ihn getroffen zu haben und mir den Kaffee und die Pause am Morgen gegönnt zu haben. Ohne die Pause wäre ich nur grüßend an ihm vorbei gewandert. Wie schön sich doch die Dinge fügen, denke ich.
Felipe und Adrian erwarten mich bereits mit einem kühlen Bier. Ich kann nicht beschreiben, wie erleichtert und glücklich in bin. Es ist wie ein zu Hause ankommen. Und das mitten in Spanien. Ich dusche und wir gehen einkaufen. Da ich so „spät“ angekommen bin, habe ich eigentlich keine Zeit zum Hinlegen. An diesem Abend trinken Felipe und ich sehr viel. Adrian trinkt ja nichts. Wir essen Pizza und werden von den Einheimischen im Ort zu einigen Drinks eingeladen. Die Gastfreundlichkeit und die Herzlichkeit der Spanier sind einfach toll. Gegen 22 Uhr gehen wir zurück in die Herberge. Wie wir genau dahin kommen, weiß ich nicht mehr.
Portomarin – 20.04.2014
WOW habe ich einen Kater… Mir geht es miserabel und auch die fehlende Ruhepause am Nachmittag macht sich bemerkbar. Mir tut alles weh nach dem Gewaltmarsch und mir ist total übel. Es ist Ostersonntag und ich bin total im Arsch. Aber ob Sonntag oder nicht, es ist ein Lauftag wie jeder andere und Pause ist keine Option, jetzt wo ich meine Freunde wiederhabe. Wir starten früh, um die Italiener einzuholen, die einen Ort weiter gelaufen sind. Achillessehne, Schultern, Magen, Füße. Alles tut weh. Mit den Italienern, die sich auch richtig über meinen Gewaltmarsch und das Wiedersehen freuen, laufen wir durch das schöne Galizien. Ich kann es allerdings nicht genießen. Heute mache ich keine Fotos, denn ich bin total mit dem Laufen überfordert. Federica leiht mir einen ihrer Walkingstöcke, mit dem ich mich voran schleppe. Ich schaffe immerhin 24 km bis nach Portomarin. Dort ist ein Fest und wir essen das typische Essen Pulpo (ja, mittlerweile kann ich wieder Nahrung zu mir nehmen!). Ich bleibe in Portomarin, Felipe ebenfalls (dem hängt der Abend immerhin auch ein wenig nach) und wir gönnen uns ein Doppelzimmer in einer Herberge mit getrennten Betten. Einfach, um eine große Portion gemütlichen Schlaf zu bekommen. Für 15 € pro Nase klappt das auch und das Zimmer ist herrlich. Sogar einen Balkon haben wir und wir schlafen erstmal am Nachmittag eine Runde. Abends schauen wir nochmal kurz auf das Fest, um einen Happen zu Essen zu besorgen. Wir gehen früh ins Bett und fallen in einen komatösen Schlaf.
Melide – 21.04.2014
Wow, war die Nacht gut und erholsam. Wir holen uns Frühstück und starten in einen langen Tag. Unser Ziel Melide ist 40 km entfernt, aber wir sind fit und das Laufen funktioniert wieder einwandfrei. Laufen, Kaffee, Laufen, Mittagessen, Laufen, Kaffee, Laufen. Die Landschaft in Galizien ist herrlich. Die meiste Zeit laufen wir still nebeneinander her, manchmal höre ich Musik, manchmal genießen wir einfach die mystische Ruhe in den Wäldern. Gerade als wir den Stadtrand erreichen, fängt es an zu schütten. Da wir gerade an einer Gaststätte stehen, kehren wir ein, essen Pulpo und fragen nach einer Pension. Die erholsame Nachtruhe in einem Doppelzimmer ist einfach zu schön und wir gönnen uns den Luxus erneut. Im eigenen Bad gönne ich mir viel Zeit zum Duschen und Relaxen. Wir trinken zusammen noch eine Flasche Wein in der Bar. Mir geht es gut und ich fühle mich, als würde ich mein Neues ICH festigen und stärken. Ich tanze und genieße die Landschaft. Ich sauge sie in mir auf wie ein Schwamm. Ich möchte möglichst lange von den Erfahrungen zehren. Die Wälder inspirieren mich zu neuen Bildideen und ich denke viel an meine Liebe zu Hause und unsere Zukunft. Egal, wie diese aussehen wird, sie wird toll und positiv und voller Energie.
O Pedrouzo – 22.04.2014
So schnell ist der Luxus wieder vorbei. Da könnte ich wirklich heulen. Das Aufstehen fällt mittlerweile schwer und der Wecker wird nur noch auf 7:15 Uhr gestellt. Das ständige Laufen ist zwar Routine, aber es wird langsam hart, sich jeden Tag aufs Neue aufzuraffen. Wir frühstücken in der Bar, dann geht es los. Ziel ist heute, die anderen wieder einzuholen, um gemeinsam nach Santiago zu laufen. Die heutigen 35 km sind wieder zauberhaft, aber auch schwer. Ich werde sentimental, als ich daran denke, in Muxia in einen Bus steigen zu müssen. Ich habe mich so sehr an die Erde unter meinen Stiefeln gewöhnt. Ich bin froh, als ich Federica vor der Herberge sehe. Felipe und ich checken ein und siehe da, unsere Freunde haben sogar Betten im selben Teil des Zimmers für uns mitreserviert. Die Freude ist groß und wieder kochen wir zusammen. Die Stimmung ist gespalten. Einige freuen sich endlich anzukommen. Andere (wie ich) fragen sich, warum alles so schnell vorbei gegangen ist. Nun ja, diese Nacht schlafe ich wieder eher mäßig, aber immerhin ist die Gang wieder zusammen.
Santiago – 23.04.2014
Der Weg ist das Ziel und heute schließt sich ein großer Kreis, wie ich es nicht für möglich gehalten habe. An einem Kreisverkehr…
Wer sich noch erinnert: Auf dem Weg nach Saint Jean fielen mir die vielen Kreisverkehre auf… Welch Ironie des Schicksals. Aber an Zufälle glaube ich nicht mehr. Heute spüre ich ALLE Elemente. Das Wasser, das auf mich regnet. Die Erde, auf der ich laufe. Die Luft, die ich in meine Lungen pumpe. Und ich sehe das Feuer, den Sonnenball, den ich direkt durch den galizischen Nebel ansehen kann. Dieses Zusammenspiel der Elemente resultiert in einem Phänomen: Ein Regenbogen. Und mir nimmt es die Luft, als mir so viel klar wird. Dieser Regenbogen ist Licht. Das fünfte Element. Licht, die reinste Form von Energie. Und diese Energie muss Gott sein. Ich fühle mich in der Seele tief berührt.
Ich weine und weine. Ich bin überwältigt. Auf dem Weg sind nun viele andere Pilger, aber ich registriere keinen einzigen. So laufe ich weinend km für km. Die anderen wollen eine Kaffeepause einlegen. Ich winke ab und laufe weiter, denn ich kann mich nicht von dieser Natur trennen. Ich weiß: DAS und nur dieser MOMENT war das Ziel meiner Pilgerreise. Und das dieser Moment auf dem Weg nach Santiago passiert, ist wundervoll.
Wieder beruhigt laufe ich mit Felipe in Santiago ein und setze mich vor die Kathedrale auf den großen Platz. Dort liegen viele glückliche Pilger. Wir starren auf die Kathedrale. Wortlos und glücklich. Aber auch traurig, denn dies ist das Ende der Reise.
Wir holen unsere Compostela im Pilgerbüro, wo wir mittags bereits 40 min anstehen müssen. Ich treffe Boris wieder, sehe in ein glückliches Gesicht. Vielleicht hatte er einen genauso schönen Moment wie ich heute. Die Bürokratie ist wenig bewegend.Den Besuch in der Kathedrale hebe ich mir allerdings für meine Rückkehr aus Muxia auf. Wir checken in ein schickes Hotel ein und genießen den letzten Abend zusammen. Ich werde morgen weiterlaufen in Richtung Meer. Ich habe drei Tage galizisches Regenwetter vor mir. Aber es wird sich lohnen. Jetzt, wo ich nicht nur mich und meine Weiblichkeit gefunden habe… Nein, ich habe viel mehr gefunden.
Etwas, von dem ich nicht wusste, dass ich es suchte:
Meinen Glauben.
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