Eine (erfundene) Kurzgeschichte vom Jakobsweg:
Ein Pilger in der Mitte des Lebens suchte nach manch schwierigen Erfahrungen auf dem Camino Francés, der von immer mehr Pilgern mit unterschiedlichsten Interessen begangen wurde, eher die Ruhe und Einsamkeit eines noch nicht so stark frequentierten Weges, der ihm dennoch eine spirituelle Erfahrung und gute Begegnungen mit Gleichgesinnten ermöglichen sollte.
Seine Wahl fiel auf die Via de la Plata, obwohl er nur im Sommer, also der heißesten Zeit des Jahres im Süden Spaniens, pilgern konnte. Aber er liebte die einzigartige Landschaft und hoffte, dass das Wetter ihm gnädig sein würde.
Er kam in Sevilla Anfang August an und wurde von Temperaturen von über 40 Grad überrascht. All seine fast schon panischen Ängste vor der Hitze sah er bestätigt! Aber er war guten Mutes, den Weg zu schaffen! Doch er war ungeübt, war meist langsamer als die anderen und der Weg zog sich daher länger. Selbst wenn er Etappen wählte, die nicht so lang waren und – nicht mitternächtlich, aber – doch recht früh losging, kam er oft in die nachmittags fast unerträglich werdende Hitze.
Eines Tages, als er sich eine besonders eintönige Piste schon am späteren Mittag noch mit letzten Kräften und in der Hitze brütend entlang schleppte, die Umgebung schon gar nicht mehr richtig wahrnehmend, sah er einen Pilger so gar nicht aus der Zeit, der sehr gelassen seines Weges zog. Er hörte erstaunlicher Weise auch herrlichen Vogelsang. Sie kamen sich näher und er stellte fest, dass der andere Pilger wie in früheren Zeiten gekleidet war. Selbst Stock und Kalebasse fehlten nicht!
Zu seiner großen Überraschung konnten sie sich auf Anhieb verständigen. Auch der ältere Pilger kam den Weg hoch von Sevilla und machte ähnlich große Etappen wie er. Allerdings hatte er wesentlich schlechteres Schuhwerk, eher eine Art römischer Sandalen – luftig, aber wenig Halt gebend. Und – er hatte einen Kanarienvogel dabei!!! Daher der wunderschöne Gesang.
Der Pilger aus früherer Zeit, der ausgerechnet Santiago hieß, berichtete ihm, dass er den Vogel von einem guten Freund geschenkt bekommen habe und er ihm sehr ans Herz gewachsen sei. Da er den Vogel nicht allein zurück lassen wollte, weil er auch den Gesang zu sehr lieb gewonnen hatte, entschied er sich, mit dem Vogel zu pilgern.
Und so genoss Santiago es gerade auf diesen eintönigen Strecken, dem Gesang des Vogels zu lauschen, und dadurch seinen inneren Frieden zu wahren. Und diese wohltuende Erfahrung machte auch der Pilger.
Als er in eine Ortschaft kam, war er ganz überrascht, dass dies schon der Ort seiner heutigen Übernachtung war. Noch eigenartiger war es, dass Santiago verschwunden war – als habe er sich in Luft aufgelöst – oder hat er dies alles nur geträumt…?
Auf der Suche nach einer Herberge hörte er auf einmal erneut den Gesang eines Kanarienvogels! Als er sah, dass dieser aus einer Pilgerherberge kam, beschloss er, dort zu übernachten! Nachdem er sich frisch gemacht und ein wenig gegessen hatte, kam er mit dem Hospitalero ins Gespräch. Er erzählte von seiner wundersamen Begebenheit auf dem Weg und dass er deshalb diese Herberge gewählt habe.
Da erzählte ihm der Hospitalero, dass es mit dem Kanarienvogel durchaus eine historische Bewandnis habe! Nach einer alten Sage habe auch Santiago, der Heilige, auf seinen Wegen einen Kanarienvogel dabei gehabt. Die Pflege des Vogels und die Ausbildung des wunderbaren Gesangs erforderten viel Geduld, die dem Heiligen bei seinen schwierigen Aufgaben oft fehlte. Er wollte vieles schneller erreichen, suchte viel zu ungeduldig den Erfolg. Oft wurde er ärgerlich, wenn etwas nicht schnell genug gelang. In einem seiner Träume, als er wieder einmal mit seinem Gott haderte, dass ihm nicht mehr Erfolg beschieden war, erschien ihm ein Kanarienvogel! Und tags darauf bot ihm zufällig ein Freund einen Jungvogel an. Er lernte, mit dem Vogel umzugehen, auch die Aufzucht und das Beibringen des Gesangs verlangten Langsamkeit und große Ruhe, brachten aber stetig auch Erfolg. So lernte Santiago langsam, aber sicher seine Ziele zu verfolgen, woran ihn der laufend schöner werdende Gesang des Vogels stets erinnerte.
Einige Wochen später erreichte auch der Pilger sein Ziel Santiago. Wenn es ihm nicht schnell genug ging oder die Hitze unerträglich wurde, hielt er sich an die überlieferten Erfahrungen Santiagos, den er wohl im Traum getroffen hatte.
Am Morgen seiner Ankunft in Santiago hatte er Glück und die Kathedrale war noch recht leer. Er ging um den Altar herum und hoch zu Santiago. Er umarmte ihn glücklich, den Weg bis hierher wohlbehalten und mit guten, natürlich teils auch schwierigen Erfahrungen geschafft zu haben. Doch plötzlich traute er seinen Ohren kaum, als der Gesang eines Kanarienvogels mitten in der Kathedrale anhob. Es erfüllte ihn zutiefst, auch wenn er sich fast sicher war, dass wohl nur er – und vielleicht Santiago – diese lieblichen Töne hören! Für ihn war es ein Zeichen, auch auf seinem weiteren Weg, nicht zu ungeduldig zu werden und im Zweifel mit Langsamkeit voranzugehen.
Dies ist eine der drei Pilger-Kurzgeschichten von Wolfgang Janowsky.
Die anderen beiden sind